Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht
Autoren: Andrej Kurkow
Vom Netzwerk:
eine zivilisierte Dusche mit Toilette. Ein Haus auf dem Wasser, dem Wind und der diesen Wind bändigenden Menschenhand unterworfen.
    Viktor hatte beschlossen, sich nicht von der Mannschaft und erst recht nicht vom Sonderkorrespondenten Issajew zu verabschieden. Nur Ljoscha wurde auf Viktors Bitte [522] zu der kleinen Bucht gebracht, von einem Bekannten Mladens, ein ebenfalls älterer hochgewachsener und kräftiger Mann mit Namen Mirko. Viktor war erstaunt, daß alle diese stattlichen, beeindruckenden Männer sich nur mit Vornamen anreden ließen. Die Namen klangen jungenhaft und hell – Radko, Mirko, Mladen.
    Mirko holte Ljoschas zusammengeklappten Rollstuhl aus dem Kofferraum, stellte ihn auf und half Ljoscha vom Auto aus hinein und dann zur Bucht hinunter.
    Vesna war schon in der Kombüse mit der ersten Mahlzeit auf See beschäftigt.
    »Macht weiter so!« sagte Viktor aus ganzem Herzen und streckte Ljoscha die Hand hin.
    In den letzten Tagen hatte die Mannschaft ›Afghanistan‹ fast alle anderen hinter sich gelassen. Morgen war der entscheidende Kampf, jetzt schon um Gold oder Silber. Und das gegen die Polen.
    Ljoscha hob beide Arme, Viktor beugte sich zu ihm, und sie umarmten sich.
    »Viel Glück!« sagte Ljoscha.
    Viktor nickte. Ihm waren Tränen in die Augen gestiegen. Ihm war, als verabschiedete er sich nicht von Ljoscha, sondern von seinem ganzen Leben, von Kiew, von Sonja und seiner Vergangenheit.
    Er sah zur Jacht hinüber. Dort stand Mischa am Heck und schien sie zu beobachten.
    »Ich gehe jetzt«, sagte er und holte tief Luft.
    Als das Boot schon einige Meilen vom Ufer entfernt war und Viktor auf sein Hotel und die Stadt Split samt einigen umliegenden Küstendörfern blickte, zog er das Handy [523] heraus und wählte Ljoschas Nummer. Er hielt es ans Ohr und suchte mit dem Blick die Bucht, die sie vor kurzem verlassen hatten. Ihm schien, er sah noch den alten Mercedes als blauen Fleck am Ufer.
    »Hallo!« erklang Ljoschas Stimme aus dem Hörer. »Was ist, hast du schon Heimweh?«
    »Ja«, lachte Viktor traurig. »Weißt du, daß heute der achte März ist? Ruf Nina und Sonja an und gratuliere ihnen!«
    »Oh, verflixt, das habe ich völlig vergessen! Danke! Ich rufe sie an!«
    »Und ruf mich morgen an, nach dem Wettkampf!«
    »Wenn es mit der Verbindung klappt!« versprach Ljoscha.
    Sie aßen Salat und Schinken im Salon. Und wieder fing Viktor, der neben Vesna an dem blankpolierten Kieferntisch saß, Mladens und Radkos gespannte Blicke auf. Er aß und versuchte sie zu ignorieren.
    Die Jacht schnitt leicht durch eine kleine Welle. Das Hintergrundgeräusch der Adria, das Viktor in Split so gutgetan hatte, wurde stärker und verwandelte sich in das romantische Rauschen von Wind und Wellen.
    Viktor erhielt eine Einzelkabine und öffnete gleich seine Sporttasche, zog den Winnie-Pu-Becher und normale Kleidung heraus. Er zog die Adidasjacke mit dem Nationalsymbol aus und statt dessen ein kariertes Flanellhemd an, das er in die Hose steckte. Jetzt, schien es ihm, war er die Heimat und die Vergangenheit los. ›Wenn ich nur nicht die Zukunft auch los bin‹, durchzuckte ihn traurig ein böser Gedanke.
    [524] Die Kabinentür ging auf, und Vesna mit dem Lächeln eines starken und an sich glaubenden Menschen schaute herein. Ihr Blick fiel unter den ganzen Gegenständen sofort auf den emaillierten Kinderbecher.
    »Ein Andenken?« fragte sie.
    Viktor nickte.
    »Komm, ich zeig dir was«, forderte die junge Frau Viktor auf.
    Sie stiegen aufs Deck hinauf, und dort wies Vesna vor zum Bug, wo unbeweglich, wie ein fünfzehnjähriger Schiffskapitän, Mischa-Pinguin stand und, Blick voraus, den Kurs der Jacht verfolgte.
    Viktor lächelte. Er hätte gern laut gelacht, aber etwas hielt ihn zurück, etwas hinderte ihn daran, sich zu entspannen und all diese unsichtbaren emotionalen Fäden zu kappen, die ihn noch mit dem Ufer, oder genauer, mit den vielen verschiedenen Ufern in seinem Leben verbanden.
    »Kennst du ›Das Märchen vom dicken fetten Pfannkuchen‹?« fragte er Vesna plötzlich.
    Vesna sah ihn erstaunt an.
    »Ja«, sagte sie. »Wir haben es in der Schule in Russisch gelernt.«
    »Siehst du, der Pfannkuchen, das bin ich«, bemerkte Viktor traurig. »Ich bin dem Großvater entkommen, der Großmutter, dem Wolf und dem Hasen… Und jetzt habe ich das Gefühl, mein Glück hat mich verlassen.«
    Vesna nickte kaum merklich. Sie war plötzlich tief in ihre eigenen Gedanken versunken, und Viktor verstand nicht, ob diese
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher