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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht
Autoren: Andrej Kurkow
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Rücken und konnte sie sich einfach nicht erklären. ›Sie vertrauen mir eben nicht‹, dachte er schließlich. ›Macht nichts, sie werden die Karte ausprobieren und sehen, daß ich sie nicht betrüge, und dann legt sich schon alles…‹
    [513] 103
    Der ›sportliche‹ Teil des Tages ging abends um acht Uhr mit einem festlichen Essen im Hotelrestaurant zu Ende, bei dem auch der Oberschiedsrichter auftrat. Es war ein Holländer mit einem unaussprechlichen Namen. Einen nach dem anderen stellte der stellvertretende kroatische Sportminister in dem riesigen Saal die Kapitäne der angereisten Mannschaften vor. In dieser festlichen Stimmung ertönte irgendwann auch der Name ihrer Mannschaft ›Afghanistan‹. Ljoscha hob beide Arme hoch. Die mit ihm am Tisch sitzenden Mitglieder der Mannschaft reckten ebenfalls ihre Arme, und der ganze Saal des Restaurants dröhnte vom Applaus. Auch Viktor und der Sonderkorrespondent Issajew hoben jetzt die Arme und schwenkten sie leicht im Takt des Beifalls. Es war etwas Wahrhaftiges in diesem Moment. Die gesammelte Aufrichtigkeit, mit der die Wettkampfteilnehmer ihrer Begeisterung über die einzige nach Split angereiste Invalidenmannschaft Ausdruck gaben, drang Viktor wie ein Pfeil ins Herz. Er betrachtete jetzt den goldenen nationalen Dreizack, der neben dem Adidaslogo auf die Trainingsanzüge der Jungs aufgenäht war, mit anderen Augen. Er senkte den Kopf und sah auf seinen eigenen Dreizack. Und auf den von Issajew. Viktor verspürte eine seltsame Erregung, die sich entweder in Brechreiz oder den Drang nach Hochprozentigem zu entladen drohte. Er mußte Blick und Gedanken irgendwie ablenken. Aber er starrte weiter wie gebannt auf das nationale Symbol, und in ihm mischte sich echte Scham mit echtem Stolz. Er schämte sich, daß er, ein Vertreter der [514] Gesellschaft betrogener Betrüger, hier als eine Art Sportfunktionär angereist war. Aber andererseits glaubte er an die Jungs und sah sie jetzt als richtige Mannschaft. ›Und wenn sie gewinnen?‹ dachte er begeistert. ›Und wenn sie gewinnen‹, dachte er noch mal, aber schon langsamer und überlegter. ›Dann wird aus der Lüge Wahrheit!‹ Vielleicht sollte das ja so sein, wenigstens in der Ukraine. Vielleicht wurde Sergej Pawlowitsch im Parlament noch zum richtigen Politiker und brachte etwas Gutes für das Land zustande? Vielleicht verwandelte ja Igor Lwowitsch sein Propagandablatt noch in eine normale, ehrliche und objektive Zeitung?
    Um ihn herum tranken schon alle den trockenen dalmatinischen Wein. Viktor fuhr aus seinen Gedanken auf, als Ljoscha und die Jungs ihre leeren Gläser absetzten.
    Er holte rasch auf, schenkte sich ein zweites Mal ein und bemerkte, daß Ljoscha, wie zum Signal für die anderen, sein Weinglas soeben mit Pepsi füllte.
    Das Essen ging ziemlich rasch zu Ende. Die Wettkämpfe begannen am nächsten Morgen um neun Uhr, und auf die Mannschaft ›Afghanistan‹ wartete die Begegnung mit der Mannschaft aus Rumänien. Das rechtfertigte und erklärte das frühe Ende des Essens völlig.
    Um elf Uhr, als Viktor schon im Bett lag und vom Balkon das sanfte Rauschen der Adria zu ihm hereindrang, klopfte es an der Tür.
    Viktor erhob sich, knipste das Licht an und öffnete. Und wich einen Schritt zurück, ohne sein Erstaunen zu verbergen. Ins Zimmer trat Vesna-Frühling. Auch gekleidet war sie frühlingshaft. Ihre sportliche Gestalt steckte in einem [515] knielangen fliederfarbenen Kleid, und die hellen Haare waren zu einem sorgfältig gekämmten Pferdeschwanz gebunden.
    »Darf ich?« fragte sie und schaute sich im Zimmer um.
    Viktor stand in seinen Boxershorts vor ihr und wußte nicht, was er tun sollte: hinter dem Gast die Tür schließen oder zum Stuhl hechten, über dem sein Trainingsanzug hing?
    Schließlich wandte er sich dem Stuhl mit seinen Kleidern zu, aber Vesna hielt ihn auf.
    »Nicht nötig«, sagte sie. »Ich bleibe nicht lange.«
    Dann schloß sie selber die Zimmertür.
    »Setz dich.« Sie nickte auf sein aufgeschlagenes Bett. »Wenn dir kalt ist, kannst du dich auch reinlegen.«
    Viktor schlüpfte unter die Decke. Er sah das Mädchen verzaubert an, sein Blick war betrunken, und er hatte immer noch den herben Geschmack des dalmatinischen Rotweins auf der Zunge.
    »Und wo ist dein Pinguin?« fragte Vesna.
    »Auf dem Balkon.«
    Sie ging auf den Balkon hinaus. Viktor sah, wie sie vor Mischa in die Hocke ging und ihm etwas zuflüsterte. Dann kam sie wieder ins Zimmer, zog sich das Kleid über den Kopf
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