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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht
Autoren: Andrej Kurkow
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Gedanken mit ihm zusammenhingen oder überhaupt nichts mit ihm zu tun hatten.
    [525] »Morgen«, sagte sie leise. »Morgen wirst du alles verstehen.«
    Dann ging sie fort und ließ Viktor an Deck stehen.
    Ein paar Minuten später erschienen Mladen und Radko. Sie machten sich an den Segeln zu schaffen, zurrten hier etwas fest, korrigierten da etwas. Viktor beachteten sie gar nicht, und ihm wurde plötzlich unheimlich. ›Wieso bitten sie mich nicht, ihnen zu helfen? Wieso bringen sie mir nicht bei, was zu tun ist?‹ überlegte er. ›Wir segeln doch sehr weit, und zu zweit ist das nicht einfach!‹
    Bevor er sich schlafen legte, schloß Viktor sich in der Kabine ein. Er war sehr froh, als er den Innenriegel an seiner Tür entdeckte.
    Mischa-Pinguin blieb an Deck, er wollte seinen Platz dort eindeutig nicht verlassen. Als wartete er darauf, daß am Horizont die heimatliche Antarktis auftauchte. Bis zur Antarktis war es noch ein Monat Weges, aber das konnte Mischa natürlich nicht erraten.
    In der Nacht versuchte jemand, die Kabinentür zu öffnen. Viktor fuhr hoch und horchte.
    »Mach auf«, hörte er Vesna flüstern.
    »Hast du Angst?« fragte sie, nachdem sie hereingekommen und vorsichtig die Tür hinter sich geschlossen hatte.
    Viktor nickte.
    »Recht hast du«, sagte sie leise und setzte sich auf seine Koje.
    »Du hast gesagt, morgen verstehe ich alles… Und was?« Viktor sah ihr in die Augen, die ihm im schwachen rötlichen Schein der Notbeleuchtung ganz grün vorkamen.
    »Mein Vater und sein Freund Radko sind zu [526] Kriegsverbrechern erklärt worden«, begann Vesna flüsternd. »Wir sind keine Kroaten, wir sind aus Bosnien. Und wir fahren nicht in die Antarktis, sondern nach Argentinien, dort hat mein Vater serbische Freunde. Und du sollst morgen über Bord geworfen werden.«
    »Und Mischa?« Viktor starrte sie mit aufgerissenen Augen an.
    Vesna seufzte tief.
    »Schließ dich wieder ein und schlaf«, sagte sie und erhob sich von seiner Koje.
    »Vielleicht sollte ich fliehen?« fragte Viktor.
    »Du kannst nicht fliehen«, sagte das Mädchen überzeugt. »Lieber abwarten.«
    »Abwarten, daß sie mich umbringen?« fragte Viktor verständnislos.
    »Der Pfannkuchen konnte nicht schwimmen«, bemerkte Vesna, bevor sie die Kajüte verließ.
    Viktor verriegelte wieder von innen und setzte sich auf seine Koje. Ihm wurde kalt, kalt und gleichgültig ums Herz.
    106
    Gegen Morgen gingen die Wellen höher, und Viktor, der trotz allem tief und fest geschlafen hatte, wurde von einem lauten Klopfen an der Kabinentür aus dem Schlummer gerissen. Während er langsam auftauchte, sich auf die Ellenbogen stützte, die Beine auf den schwankenden Kajütenboden setzte, ging das Klopfen in Hämmern über. Und [527] Mladens heisere Stimme ertönte. Wegen der verschlossenen Tür war nur schwer zu verstehen, was diese Stimme schrie. Viktors Körper mochte aufgewacht sein, aber sein Verstand schlief noch, denn sonst hätte er nicht den Riegel an der Tür zurückgeschoben.
    Wütend flog Mladen herein und blieb stehen, als er vor sich den verständnislosen, halb schlafenden Viktor erblickte, der um Mitternacht schon aufgegeben hatte, sich vor dem Tod zu fürchten. Er drehte sich um und rief grob nach Vesna. Eine Minute später kam sie herunter.
    »Ist das wahr?« brüllte Mladen Viktor ins Gesicht.
    Viktor roch den Rakija und das Meer.
    »Was?«
    »Du hast mit ihr im Hotel geschlafen?« brüllte Mladen drohend und wies mit dem Blick auf seine Tochter, die mit einem unerschrockenen Ausdruck im schönen und starken Gesicht neben ihm stand.
    »Ja«, anwortete Viktor und bemerkte im gleichen Augenblick, wie sich Mladens Rechte gewaltig anspannte und zum Schlag ausholte.
    Er kniff die Augen zu und erwartete mit der ganzen Gesichtshaut den Schlag von Mladens Faust. Aber die Faust sauste vorbei und landete in Vesnas Gesicht, wovon die taumelte und an der Tür zu Boden ging.
    Völlige Verwirrung ergriff Viktor. Auf seine eigenen Unannehmlichkeiten bis hin zu seinem eigenen Tod war er schon vorbereitet, aber nicht darauf, daß Mladen seine Tochter schlug.
    Viktor beugte sich vor und hob die Hände, um den nächsten Schlag des bosnischen Serben aufzuhalten. Aber [528] Mladen faßte sich plötzlich mit beiden Händen am Kopf und rannte mit den Worten » Oj, mudak, mudak! « aus der Kabine.
    Viktor ging zu Vesna, die schon auf dem Holzboden draußen vor der Tür saß. Unter ihrem linken Auge bildete sich langsam ein Veilchen. Die Braue schwoll auch
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