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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht
Autoren: Andrej Kurkow
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die Heimat liebt man ja nicht fürs Geld, oder?«
    »Welche Heimat?« fragte Viktor verständnislos.
    Sweta umarmte ihn und zog ihn an sich.
    »Meine Heimat, das ist dieser Kindergarten! Hier habe ich fünf Jahre meines Lebens verbracht, erst in der Krippe, dann in den Gruppen. Meine Eltern haben mich morgens [32] um acht hier abgeliefert und abends um sechs wieder geholt.«
    »Aber warum arbeitest du hier?« wunderte sich Viktor. »Du verdienst doch wohl auch so nicht schlecht!«
    »Ach, zum Teufel«, sagte Sweta plötzlich ärgerlich. »Du hast mir noch keine Kopeke gezahlt und zählst schon mein Geld! Also, jetzt schnell an die Arbeit!«
    Sie lachte und drehte Viktor auf den Rücken, dann rutschte sie auf seinen Bauch, beugte sich zu ihm und küßte ihn auf den Mund.
    »Du bist ein Schwätzer, kein Polarforscher!« sagte sie beinah zärtlich.
    »Nein. Ich habe nur so lange den Mund nicht aufgemacht.«
    Das Knarren der Mattengeflechte echote von den Wänden des geräumigen Schlafsaals. Plötzlich gefiel es Viktor, daß Sweta so klein und zierlich war. Er rollte sie mit Leichtigkeit von sich fort auf die andere Seite und drückte sie dort von neuem an sich, schmiegte sich an sie, suchte ihre Augen und ihre Lippen. Das ging lange so, bis plötzlich irgendwo aus der Dunkelheit ein fernes Telefonklingeln zu ihnen drang. Es klingelte dreimal und verstummte. Aber Viktor erstarrte mit hochgerecktem Kopf und lauschte.
    »Keine Angst, das ist das Telefon der Direktorin… Da hat sich jemand verwählt. Willst du was essen?«
    Überrascht von der Frage, entspannte Viktor sich ein wenig, legte sich wieder hin und sah Sweta an.
    »Und welches Menü ist heute vorgesehen?«
    »Das Menü besteht hier seit [33] neunzehnhundertdreiundsiebzig unverändert: Grießbrei mit einem Klacks Butter und Erdbeerkompott in der Mitte. Die Gierigen naschen die Mitte weg und trinken das Kompott, die Klugen verrühren das Ganze und essen den Teller leer…«
    »Warum nicht? Das wäre was!« Viktor lachte.
    »Wieso ›wäre‹?« Sweta reagierte gekränkt. »Glaubst du mir nicht? Los, gehen wir! Das Waschbecken ist im Flur rechts, da sind auch die Töpfe.«
    Sie zogen sich an und liefen hinüber in den anderen Flügel des Gebäudes, und dort, in der unbeleuchteten Kindergartenküche, kochte Sweta ›blind‹ Grießbrei. Nur als sie den Kühlschrank öffnete, um die Milch herauszunehmen, fiel gelber, heimeliger Lichtschein auf den Boden. Auch die bläulichen Flämmchen des Gaskochers hatten etwas Gemütliches. Aber als Viktor später im Speisesaal an einem kleinen Kindertisch saß und sich mit einem Aluminiumlöffel echten Grießbrei mit Erdbeerkompott in den Mund schob, da war das gemütliche Gefühl schon verflogen. Ihm gegenüber saß Sweta, die es dank ihrer Miniaturgröße an dem Tischchen ganz bequem hatte. Viktor lächelte sie an und verspürte den Drang zu reden.
    »Bist du absichtlich nicht größer geworden? Weil du im Kindergarten bleiben wolltest?«
    »Aber sicher!« antwortete sie fröhlich. »Erstens ist man Kindern nicht böse. Zweitens verzeiht man ihnen vieles. Und drittens will man ihnen nicht weh tun, im Gegenteil, sie werden verwöhnt. Alles klar?«
    »Und wie kann ich dich verwöhnen?« fragte Viktor.
    »Nein, jetzt verwöhne ich dich erst mal, weil du so ein eingefrorener Vogel, na, ein Polarforscher bist. Siehst du, [34] ich verwöhne dich mit Grießbrei. Und ich will von dir nicht viel – fünfzig Grüne sind genug!«
    »Ist das nicht ziemlich viel?« fragte Viktor lachend nach.
    »Alter, bei mir ist kein Rabatt für Polarforscher vorgesehen… Aber wenn du drauf bestehst, wird sich etwas finden!«
    »Nein, nein. Das war nur Spaß…«
    Viktor erwachte auf dem ›Bett‹. Irgendwo auf dem Boden piepte ein Wecker. Als er die Augen aufschlug, wurden sie sofort von einem Sonnenstrahl getroffen, und Viktor wandte sich mit zusammengekniffenen Lidern ab. Er beugte sich vor, suchte mit dem Blick den Boden ab und begriff, daß der Wecker in Swetas Tasche übernachtet hatte. Sweta schlief noch, die Stupsnase fest ins Kissen gedrückt.
    Viktor stand auf, öffnete die Tasche, nahm den kleinen Wecker heraus und stellte ihn ab. Dann legte er ihn wieder zurück und wurde auf die Autoschlüssel und einen Ausweis in der Tasche aufmerksam. Er drehte sich zu der immer noch schlafenden Sweta um und schlug den Ausweis auf.
    Es war der Studentenausweis von Swetlana Aljochina, Studentin im dritten Jahr am ›Internationalen
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