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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht
Autoren: Andrej Kurkow
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Sie drehte sich von Zeit zu Zeit halb nach ihm um, wie um zu überprüfen, ob er noch da war.
    »Was machst du eigentlich so?« fragte sie, als sie sich wieder mal nach ihm umsah. Sie fragte gleichmütig, ohne Neugier.
    »Ich?« Viktor holte tief Luft, dachte nach, und plötzlich kam ihm das notwendige Wort von selbst über die Lippen. »Ich bin Polarforscher…«
    [29] »Polarforscher?« fragte Sweta verwundert. »Was meinst du? Warst du im Knast oder was?«
    »Ich habe dort überwintert, eigentlich: übersommert.«
    »Auf einer Eisscholle?«
    »Beinah. In der Antarktis, auf einer Expedition. Die Ukraine hat da eine Datscha, weißt du, namens ›Faraday‹. Ich war zuständig für die Rechte der Pinguine.«
    »Eine Datscha? In der Antarktis? Du willst mich verscheißern!« Das Mädchen lachte laut heraus.
    »Erstens mag ich keinen Gossenslang, und zweitens verscheißere ich dich nicht! Ich bin gerade erst zurück.«
    Sweta blieb auf einmal stehen, und ihre runden Augen strahlten.
    »Also, du Polarforscher, wir sind da!«
    Viktor sah sich um und erkannte, daß sie vor den weit offenstehenden Toren eines Kindergartens haltgemacht hatten. Der Schein der Straßenlaternen reichte mit letzter Kraft bis zu den Sandkästen und Schaukeln. In den Fenstern des zweistöckigen Gebäudes brannte kein Licht. Viktor sah Sweta an, dann spähte er noch mal hinüber zu dem hölzernen Vordach hinter dem Kinderspielplatz. Der Verdacht beschlich ihn, Sweta wolle ihn mit nächtlicher Teenie-Straßenromantik ›bewirten‹. Und darauf verspürte er nicht die geringste Lust. Er mochte die offene Weite nicht, ob in der Antarktis oder im Zentrum von Kiew. Besonders, wenn hinter dieser Weite die Dunkelheit lauerte.
    »Und jetzt?« fragte Viktor, und in seiner Stimme klang leichter Unmut. »Was machen wir hier?«
    »Keine Angst, Witek«, zwitscherte Sweta. »Ich habe einen Zauberschlüssel!«
    [30] Mit leichten Schritten lief sie zum Seiteneingang des Kindergartens. Geschickt öffnete sie die Tür und verschwand mit einem einladenden Winken in der Dunkelheit. Viktor folgte ihr.
    Drinnen war es erstaunlich still, und diese Stille kam Viktor bedrohlich vor.
    »Keine Sorge, hier ist keiner!« flüsterte Sweta und winkte ihn weiter.
    Sie stiegen hinauf in den ersten Stock und liefen einen langen Flur entlang, während sie auf das Knarren des Parkettbodens unter ihren Füßen horchten. Dann öffnete Sweta eine Tür, und sie betraten einen Raum. Viktors Augen, die sich schon an das Halbdunkel gewöhnt hatten, bot sich ein Schlafsaal mit ein paar Dutzend Kinderliegen in zwei Reihen, militärisch akkurat bezogen. Die zu Dreiecken aufgestellten Kopfkissen standen in Reih und Glied und erinnerten Viktor sofort an die Pionierlager seiner sowjetischen Kindheit.
    »Was stehst du so da?« fragte Sweta. »Wir müssen umbauen, sonst ist es unbequem!«
    Sie begann, die Bettchen zusammenzuschieben. Ihre Absicht war klar. Wenn man fünf dieser Bettchen mit den Seiten aneinanderschob, ergab das quer ein normales Doppelbett. Als Sweta fertig war, drehte sie sich um.
    »He, Polarforscher, zieh dich aus, sonst frierst du noch ein!«
    Viktor fühlte sich plötzlich unbehaglich. Er sah sich wieder nach allen Seiten um, lauschte auf die Stille, betrachtete die von Swetas Tun nicht berührten übrigen Kinderliegen, die links von ihnen in geometrisch exakter Reihe standen.
    [31] »Ist das hier immer noch ein Kindergarten?« fragte er und sah Sweta an.
    Sie stand schon im Schlüpfer vor ihm.
    »Von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends, ja«, sagte sie.
    »Und von sechs Uhr abends bis acht Uhr morgens?«
    »Was ist los, Witek?« In ihr Erstaunen mischte sich Unmut. »Stört dich irgendwas?«
    »Nein.« Viktor riß sich zusammen, verbannte jeden Gedanken aus seinem Hirn und zog sich schnell aus.
    Sie lagen schon nebeneinander auf dem improvisierten Bett und Viktor atmete den Duft des fremden Parfüms, als Sweta ihn endlich sacht an der Brust berührte, sich zu ihm drehte und flüsterte: »Keine Angst, das hier ist kein Bordell! Und übrigens arbeite ich tagsüber auch hier.«
    »Als was?« Viktor drehte sich zu ihr um und berührte mit dem Finger ihre Lippen.
    »Nicht als Erzieherin«, antwortete sie und drückte einen Kuß auf seinen Finger. »Ich singe mit den Kindern. Spiele ihnen Mazurkas und Polkas auf dem Klavier vor, und sie tanzen, einfach toll. Man könnte richtig neidisch werden!«
    »Wirst du dafür bezahlt?«
    »Ja, fünfzehn Scheine im Monat, einheimische. Aber
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