Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht
Autoren: Andrej Kurkow
Vom Netzwerk:
Wirtschaftskolleg‹.
    ›Drittes Jahr?‹ überlegte Viktor und sah wieder hinüber zum Bett.
    Die Sweta Aljochina auf dem innen klebenden Foto war ein finster dreinblickender, mißmutiger Teenager.
    Nachdenklich legte Viktor den Ausweis zurück in die [35] Tasche, erhob sich und ging zum Fenster. Er räkelte sich, ließ den ungewohnt wachen Blick über das Gelände des Kindergartens schweifen und sprang im nächsten Augenblick zurück Richtung Bett. Das Gelände betraten gerade munter plaudernd zwei ältere Frauen.
    Er beugte sich über Sweta und berührte sie an der Schulter. »Sweta, aufstehen! Da kommt jemand!«
    Sweta schlug träge die Augen auf. »Hat der Wecker noch nicht geklingelt?«
    »Doch, vor einer Viertelstunde.«
    »Was?« Sweta sprang auf, zog sich rasch an und sah sich nach Viktor um. »Was stehst du so da! Schnell, hilf mir, die Betten richtig hinstellen!«
    Unter ihrer geschickten Anleitung verwandelten sie das große Doppelbett wieder in fünf Kinderliegen, die sie schnell an ihren Platz schoben. Dann richtete Sweta mit ein paar flinken Griffen das Bettzeug. Viktor bemerkte nur, daß die Kissenhütchen auf den Betten der ›unberührten‹ Reihe akkurater standen.
    Sie huschten durch eine Hintertür ins Freie. An der Tür trafen sie auf zwei kräftige Burschen, die große Kartons ins Gebäude hineintrugen. Sweta rief ihnen »Hallo!« zu und sprang an ihnen vorbei. Viktor ließ die Männer herein und lief dann Sweta hinterher.
    »Wer sind die?« fragte er.
    »Eine Firma hat den Keller als Lagerraum gemietet. Computer!« erklärte Sweta. Dann sah sie auf die Uhr und wandte Viktor ihr noch nicht ganz ausgeschlafenes Gesicht zu – in den Augen ein leichtes, schläfriges Bedauern, das schon den notwendigen Abschied vorwegnahm.
    [36] »Witek, und wo bleibt mein ehrlich Verdientes?« fragte Sweta.
    Viktor zog gehorsam die Scheine aus der Tasche, fischte einen grünen Fünfziger heraus und streckte ihn ihr hin.
    »Entschuldige, ich muß mich beeilen«, sagte sie schon herzlicher. »Wenn du dich runterbeugst, kriegst du einen Kuß!«
    Viktor beugte sich zu der lieben kleinen Gestalt. Sie gab ihm einen Kuß auf den Mund.
    »Vielleicht sehen wir uns wieder?« fragte Viktor.
    »Gib mir deine Nummer, ich rufe dich an«, schlug Sweta vor.
    Viktor hätte fast seine Telefonnummer genannt, aber er unterbrach sich gleich. Sein Telefon war ja jetzt das Telefon von Nina, Sonja und irgendeinem Wachmann, der aussah wie ein Milizionär.
    »Ich habe kein Telefon, zur Zeit…«
    »Wieso läßt du dich denn so hängen?« wunderte sich Sweta. »Ehe du dein ganzes Polargeld an die Mädchen verschleuderst, kauf dir doch ein Handy!«
    »Und du?«
    Sweta seufzte. »Bei mir schläft Mama neben dem Telefon, und sie mag es nicht, wenn man sie weckt…«
    »Na gut«, sagte Viktor, »ich finde dich schon!«
    »Versuch es!« Sweta lächelte. »Wenn du mich findest, kriegst du einen Kuß!«
    Sie gingen bis zur Schelkowitschnaja-Straße. Sweta hüpfte auf die Fahrbahn und wedelte mit der Hand; sofort hielt ein Wagen mit einem abrupten Schlenker Richtung Bordstein neben ihr. Sweta wurde sich mit dem Fahrer [37] einig, winkte Viktor noch mal zu, setzte sich ins Auto und fuhr davon.
    Viktor folgte dem Wagen mit dem Blick, holte tief Luft und schlenderte die Straße entlang weiter. Bog in die Luteranskaja und kam hügelabwärts wieder zurück auf den Kreschtschatik.
    5
    Im gerade öffnenden Kellercafé ›Alt-Kiew‹ herrschte angenehme Kühle. Die Herrin über die große ungarische Kaffeemaschine schichtete gähnend Kuchen vom Vortag in die Auslage.
    Sie hatte einen scheußlichen Kaffee gekocht. Dafür warf sie die Zuckerwürfel selbst hinein, und mehr als nötig. Zum Glück rührte sie nicht um.
    Viktor befand sich immer noch im Bann der letzten Nacht, dachte an Sweta, an ihre seltsame und so natürliche Kindlichkeit. Nur der Studentenausweis fügte sich so gar nicht ins Bild. Als ob er eine gewöhnliche Fälschung wäre, für eine ermäßigte Monatskarte der U-Bahn. Das war ja durchaus möglich. Auf der Petrowka konnte man mühelos jeden Ausweis kaufen, ob fürs Innenministerium oder den Geheimdienst. Man mußte nur noch das Foto einkleben und irgendeinen Stempel hineindrücken. Danach tu damit, was du willst. Im vernünftigen Rahmen, versteht sich.
    Viktor trank einen Schluck von dem Kaffee, der seltsamerweise keine Spur von der Bitterkeit auf der Zunge hinterließ, die Kaffee sonst an sich hat. Statt dessen tauchte [38] auf einmal
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher