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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht
Autoren: Andrej Kurkow
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Herzenslust Wein trinken konnte. Ein Glas Moldauer Cabernet erwies sich als genau das richtige. Die Zeit blieb stehen. Ringsum betranken sich die freien Bürger der Stadt Kiew, kamen und gingen die Gesichter als rote Flecken. Und Viktor badete in der weinseligen Wärme, es war, als ob er den ganzen [23] durchlebten und dabei gar nicht so grimmigen antarktischen Frost auftaute. In seinem Kopf klang noch das Stimmchen von Sonja nach, die nach Mischa fragte und sich über die kratzende Katze beschwerte.
    Die Bierstube hatte keine Fenster. Unter der dunklen Decke brannten gelbe Lämpchen, und ganz unpassend leuchtete über dem Tresen die grüne Neonschrift: Heineken. ›Was denn bloß für Heineken?‹ dachte Viktor lächelnd. Hier war doch alles ureigen, heimisch, vertraut und billig. Das Bier, der Wein und auch der mitgebrachte Wodka, mit dem ein paar Gäste nach alter sowjetischer Tradition unauffällig ihr Bier anreicherten. Für den verstärkten Effekt, der auch unweigerlich eintrat. In einer Ecke der Bierstube schnarchte schon ein Mann von gleichzeitig abgerissener und intelligenter Erscheinung. Jemand trat zu ihm und beugte sich über ihn. Viktor sah interessiert hin und erwartete, daß der Schläfer nun hinausbefördert würde. Aber der sich über den Schläfer beugende Mensch wollte nichts als die Zeit in Erfahrung bringen. Er hob die willenlose linke Hand des Mannes, schob den Jackettärmel hoch, studierte die Zeiger auf dem Zifferblatt und legte die Hand wieder an ihren Platz.
    Für ein drittes Glas Wein reichte Viktors Geld nicht. Er begab sich über die steilen Stufen wieder hinauf ins Freie und sah sich um. Die Straße füllte sich mit abendlichen Lichtern, von den Schaufenstern fiel ein sanfter Schein auf die Trottoirs. Wenn er jetzt nach links ging, kam er nach etwa dreihundert Metern ans Ufer des Dnjepr. Dort würde ihn der kühle Wind vom Fluß wieder munter machen.
    Etwa eine Stunde schlenderte Viktor am Ufer entlang [24] Richtung Metro-Brücke. Neben ihm jagten die Autos vorbei. Er ging und dachte nach, über sich und seine Rückkehr. Die Tatsache, daß sein Platz zu Hause besetzt war, trug er ziemlich gelassen. Sein Haus war eben nicht mehr sein Haus. Dort war jetzt eine andere Welt entstanden, und vielleicht hatte er kein Recht, sich da einzumischen. Nur Sonja fühlte er sich jetzt näher als damals vor seiner Abreise. Nur sie gehörte nirgendwohin, genau wie er. Das verband sie miteinander, wie die Vergangenheit und der verstorbene Mischa Nichtpinguin, dessen Gesicht schon aus Viktors Gedächtnis verschwunden war. Aber in anderer Weise erinnerte sich Viktor an ihn, zum Beispiel an seine Stimme. Und Sonja war jetzt alles, was Mischa der Welt zur Erinnerung an sich hinterlassen hatte. Nein, nicht der Welt, sondern ihm, Viktor…
    An der Brücke setzte Viktor sich in die U-Bahn und fuhr zur Station ›Lewobereschnaja‹. Von da trugen ihn seine Füße direkt ins Kasino ›Johnny‹.
    Hier hatte sich nichts verändert. Er erinnerte sich an keine Gesichter, aber die Aufteilung des Foyers, der Durchgang hinter den schweren Vorhängen, die Umtauschkasse – alles war noch genauso. Der Wache am Saaleingang drückte Viktor wortlos ein paar Jetons aus seinem Tütchen in die Hand.
    Er blieb am ersten Roulettetisch stehen, machte seinen Einsatz und betrachtete die drei betrunkenen jungen Männer, die ebenfalls ihre Jetons auf die numerierten Felder verteilten. Die Kugel sprang im Kreis. Der junge Croupier verfolgte sie gleichmütig aus zusammengekniffenen Augen. Ihn langweilte das Spiel, und seine ganze Gestalt [25] sagte: ›Wartet nur. Erst in drei Stunden geht es hier richtig rund!‹
    Auch Viktor verfolgte die Kugel völlig gleichmütig. Allerdings hielt sie auf der Zehn, und Viktor begriff, daß seine Jetons nun in den Besitz der Bank wechselten. Erstaunt holte er weitere Jetons heraus und machte ein paar Einsätze. Wieder verlor er, und das ernüchterte ihn. Die jungen Leute neben ihm verloren auch, aber völlig ungerührt, als wären sie zu ebendiesem Zweck hergekommen. Und warum war er selber hier? Weil er hier seine letzten Kiewer Tage und Nächte verbracht hatte. Damals hatte er seinen bevorstehenden Tod gefeiert, und deshalb hatte er gewonnen, aber jetzt? Der Tod, so schien es, war in seinem anderen, vergangenen Leben zurückgeblieben. Genau wie offenbar auch sein Glück.
    Viktor spielte noch ein paarmal und wieder ohne Erfolg. Einer der Burschen gewann sogar plötzlich ein Dutzend Jetons, während
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