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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht
Autoren: Andrej Kurkow
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Tür an. Eine neue, aus Gummi, mit der reliefartigen Gummischrift Welcome . Nachdem er ein paar Sekunden so dagestanden hatte, hörte Viktor, wie unten eine Tür zuschlug, und dieser Knall vermittelte ihm das jähe Gefühl von Gefahr, von Furcht. Viktor erstarrte, während er auf irgendwelche Schritte lauschte. Jemand stieg, mit dem Schlüsselbund klimpernd, hinauf in den dritten Stock. Eine Tür klappte auf und wieder zu. Es wurde [17] wieder still, und Viktor stieg vorsichtig die Treppe hinunter. Er sah auf den Hof hinaus. Die Angst war noch nicht weg, aber es war keine normale Angst. Es war die alte Angst aus der Vergangenheit. Sie war aus den Tiefen des Gedächtnisses aufgestiegen und hatte Viktor vereinnahmt. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes, durch den zwischen Betonpfeilern Schnüre zum Wäschetrocknen gespannt waren, leuchteten grün die frischgestrichenen Türen des Nachbarhauses. Dort, im ersten Stock rechts, wohnte Mama Tonja, die Mutter seines Sandkastenfreundes Tolik. Sie hatte ihr Leben lang Milch verkauft. Hier, in ihrem Hof. Ab sechs Uhr morgens drang ihre schallende Stimme in die offenen Fenster. »Mi-ilch! Mi-ilch!« schrie sie. Damals hieß dieser Ruf das gleiche wie »Aufstehen!«. Nur, daß »Aufstehen!« seine Mutter sagte, während das Wort »Milch!« anderthalb Stunden früher in sein Zimmer geflogen kam und ihn aufs Aufstehen vorbereitete.
    Viktor lief mit raschen Schritten über den Hof und die Treppe in den ersten Stock hinauf.
    »Witja?« freute sich Mama Tonja, als sie die Tür aufmachte. »Komm rein! Komm rein! Und ich dachte schon, du bist ganz weg!«
    ›Von wegen Mama‹, dachte Viktor. Tonja war sorgfältig gekleidet, man sah, daß sie auf sich hielt. Milchverkäuferinnen bewahren lange Jugendlichkeit und eine glatte Haut. Es muß ein gesunder Beruf sein. ›Sie ist sicher bald sechzig‹, überlegte Viktor.
    »Willst du was essen?« fragte Mama Tonja. »Ich habe gerade Bouillon gekocht. Ich habe ein Huhn gekauft, das hat sich als uralt entpuppt, taugt nur noch für eine Suppe.«
    [18] Viktor nickte. Auf dem Weg in die Küche warf er einen Blick ins Wohnzimmer, wo auf der Anrichte ein Porträt von Tonjas ewig jungem Sohn Tolik stand. Vor vielen Jahren war er von einem Baum gefallen und zu Tode gestürzt. Damals standen um diese Häuser herum viele alte Bäume, und auf ihren obersten Ästen hatten sie, die kleinen Jungen von damals, sich Hütten gebaut. Sie fanden eine passende Astgabel, verlegten einen Bretterboden darin und blickten aus zwanzig Meter Höhe auf die kleine Welt der erwachsenen ›Erbauer des Kommunismus‹ hinab.
    Es war eigentlich schon damals klar, daß die Leute diesen Kommunismus jeder für sich selbst erbauten. Das hatte etwas von einem heimlichen Wettbewerb: Wer erbaut bei sich zu Hause am meisten Kommunismus? Bei wem finden sich am meisten Räucherlachs und Krimsekt im Kühlschrank? Großer Gott, das war ja alles ewig her!
    Auch die Hühnersuppe erinnerte ihn an irgend etwas aus ferner Vergangenheit. Nicht mal an irgend etwas, sondern einfach an die Vergangenheit, die gute, häusliche Kindheit. Dieses zähe Hühnerbein, in dem die Zähne hängenblieben, und diese schwimmenden gelben Hühnerfettaugen auf der Oberfläche des Bouillonsees.
    »Ich hab noch kalten Reis«, sagte Mama Tonja. »Soll ich welchen reintun?«
    Viktor nickte, und sie ließ zwei Eßlöffel gekochten Reis in seine Bouillon fallen, wo er sofort auf den Grund sank.
    »Wo wohnst du denn jetzt?« fragte sie.
    »Na, hier«, antwortete Viktor.
    »Ach so, du hast Untermieter? Und ich dachte, du hast die Wohnung verkauft!«
    [19] Viktor überlegte.
    »Nein, da wohnt die Nichte meines Freundes mit ihrem Kind…«
    »Ja, sie hat so einen netten Mann, einen großen… ein Milizionär, wie’s aussieht, oder bei der Armee…«
    »Mann? Milizionär?« fragte Viktor verwundert. »Von einem Mann weiß ich nichts.« Und er warf einen leicht beunruhigten Blick durch das Küchenfenster auf die Fenster seiner Wohnung im Haus gegenüber.
    »Kann ich von hier mal telefonieren?« fragte er.
    »Ja, dort, das Telefon steht auf dem Kühlschrank…«
    Viktor stand auf und wählte seine Nummer.
    »Hallo?« erklang im Hörer Sonjas helles Stimmchen.
    »Sonja?« Viktor lächelte in den Hörer.
    »Onkel Kolja?« fragte Sonja.
    »Nein, Onkel Witja.«
    Es entstand eine Pause, nach der Sonjas Stimmchen noch lebhafter klang.
    »Onkel Witja?! Wo bist du?«
    »In Kiew. Und du?«
    »Zu Hause. Ist Mischa bei
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