Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht
Autoren: Andrej Kurkow
Vom Netzwerk:
aufmerksam an.
    [11] »Es ist alles vorbereitet, meine Abreise und Papiere auf einen anderen Namen, morgen kommen sie mit einem Motorboot. Da ist ein Pole, Wojtek. Er soll mich von hier mitnehmen, aber wenn er mich so sieht…« Bronikowski seufzte schwer. »Also, ich komme hier nicht mehr weg, aber wenn du willst, kannst du für mich fahren. Wenn du mir versprichst, daß du tust, worum ich dich bitte…«
    Viktor nickte. Bronikowski erklärte, daß er Viktor einen Brief für seine Frau sowie eine Kreditkarte geben wollte, mit der Viktor für die Reise etwas Geld abheben konnte, die er dann allerdings seiner Frau überlassen sollte.
    »Aber auf den Papieren ist doch dein Foto?«
    »Wojtek ersetzt es in einer Minute durch deins. Er ist ein Fachmann auf dem Gebiet.«
    Nachdem Viktor ein paar Minuten nachgedacht hatte, nickte er. Im selben Moment sah er auf Bronikowskis bleichem Gesicht ein schmerzliches Lächeln.
    2
    So stieg Viktor fast einen Monat später die steilen Waggonstufen auf den Bahnsteig des Kiewer Bahnhofs hinunter. In den Hosentaschen steckten zwei Pässe. In der rechten ein polnischer, in der linken der hellblaue, ukrainische. Die Sporttasche wog nicht schwer über der Schulter, auf ihrem Grund lag ein Tütchen mit Kasinojetons, daneben ein Notizbuch und eine Packung polnischer Kekse.
    Ein düsterer Himmel hing über dem Kiewer Bahnhof, ohne Gewitter oder Regen zu verheißen.
    [12] Viktor trat auf den Platz hinaus und blieb stehen. Wäre er nicht stehengeblieben, sondern ›auf Autopilot‹ gegangen, hätten ihn seine Füße jetzt zur Bushaltestelle und dann zu seiner Haustür getragen. Aber der Autopilot funktionierte nicht. Genauer gesagt, das Leben hatte ihn ausgeschaltet, und deshalb fühlte sich Viktor bei seinen ersten Schritten über den Bahnhofsvorplatz wie ein unerfahrener Kosmonaut bei den ersten Schritten auf dem Mond. Er fühlte eine irritierende Unsicherheit, und der Asphalt war so verdächtig weich unter den Füßen, als könne er im nächsten Moment einsinken. Wie konnten bloß die anderen so ruhig und zügig an ihm vorbeigehen? Bei ihnen funktionierte wohl der Autopilot, bei Viktor aber nicht, das war das Problem.
    Trotzdem mußte er irgendwo hin. In der Tasche lagen die ukrainischen Griwni, die am Südpol ›übernachtet‹ hatten. Wenn während der antarktischen Polarnacht inzwischen nicht die Regierung gewechselt und es keinen neuen politischen Erdrutsch in Richtung Rußland gegeben hatte, dann konnte man mit diesen Griwni noch für ein paar kleine Freuden des Lebens, eine Busfahrt etwa, bezahlen. Nur wohin sollte er als erstes fahren?
    Viktor sah sich um und erblickte einen Zeitungskiosk. Sofort festigte sich der Asphalt unter seinen Füßen, und über diesen wieder festen Boden begab sich Viktor zum Stand der ›Nationalen Presse‹.
    Sein Blick machte unter den drei Dutzend auf dem Ladentisch aufgefächerten Zeitungen sofort die vertrauten ›Hauptstadtnachrichten‹ aus.
    Er trat einen Schritt vom Kiosk zurück, schlug die [13] Zeitung auf und stand so eine halbe Stunde da. Gebannt sog er die Kiewer Nachrichten in sich ein.
    Das Leben hatte sich nicht verändert. Wenigstens konnte man aus dieser Zeitungsausgabe schließen, daß hier, in der Hauptstadt Kiew, alles seinen gewohnten Gang ging. Ausländische Gäste brachten ein paar Schulen humanitäre Hilfe, zwei Abgeordnete des ukrainischen Parlaments waren wegen dunkler Bankengeschäfte in einem deutschen Gefängnis gelandet, in Cherson war die Familie eines Geschäftsmannes erschossen worden, und im Stadtteil Obolon eröffnete ein luxuriöser Supermarkt für Gartenmöbel und Gartengeräte. Nur zwei kleine Nekrologe auf der vorletzten Seite verdrossen Viktor mit ihrem eintönigen Wortschatz und dem unbeholfenen Gestammel des unbekannten Autors, der sich hinter seinem, Viktors, einstigem persönlichen Pseudonym ›Der engste Freundeskreis‹ versteckte. Und im Impressum der Zeitung fehlte Igor Lwowitsch. Chefredakteur war jetzt ein gewisser Waizman, P.D.
    Als süße Erinnerung blitzte in seinem Kopf das Bild eines vergangenen Begräbnisses auf: Er und Mischa am Grab eines weiteren bedeutenden Toten, die Sonne scheint herab, es erklingt die Trauerrede eines Freundes oder Verwandten, nur, daß die Worte vorbeifliegen, denn er und Mischa gehören quasi nicht dazu, sie sind Teil des Rituals, genauer gesagt, der Pinguin Mischa gehört zum Ritual, und er, Viktor, gehört zum Pinguin Mischa. Und deshalb hören sie nichts, sie warten das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher