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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht
Autoren: Andrej Kurkow
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Begräbnis ab, warten die Zeit ab, warten das Leben ab, als wäre es ewig.
    Viktor dachte wieder an Mischa. Wo war er jetzt? In der [14] Klinik in Teofania? Wohl kaum… Am ehesten machte er gerade Pause zwischen zwei Begräbnissen. Das hieß, man mußte ihn auf dem Baikowofriedhof suchen, zu einem Zeitpunkt, wo dort eine Mercedesflotte wartete. Das Leben hatte sich ja nicht geändert.
    Unerwartet drang die Sonne mit ihren Strahlen durch den düsteren Himmel, und Viktor hob den Kopf. Die Himmelsstimmung veränderte sich. Die dunklen Wolken verwandelten sich allmählich in Schäfchenwölkchen.
    Nachdem er die Zeitung in die Tasche gepackt hatte, blinzelte Viktor noch ein Weilchen in die hervorlugende Sonne. Dann verschwand sie, aber offensichtlich nicht für lange. Schließlich war noch Sommer. Auch wenn der Herbst schon im Anmarsch war.
    ›Der Herbst ist unterwegs – genau wie ich‹, dachte Viktor und sah sich nach dem Busbahnhof um.
    Jetzt mußte er entscheiden, wohin es weitergehen sollte. Er hatte Lust, nach Hause zu fahren und ein Bad zu nehmen. Dann, in der Reihenfolge der Prioritäten, mußte er Mischa finden und sich davon überzeugen, daß es ihm gutging. Er stand schließlich in seiner Schuld. Er, Viktor, hatte Mischas Platz im Flugzeug eingenommen und war in dessen Heimat geflogen. Dabei war der Anlaß für diesen Platztausch durchaus ein ernster gewesen. Aber er würde diese Schuld bei Mischa begleichen, unbedingt. Er beglich seine Schulden immer. Schade nur, daß niemand in seiner, Viktors, Schuld stand.
    Da zog schon die Stadt am Busfenster vorbei. Die Mittagssonne leuchtete auf dem Asphalt und den Gehsteigen. Neben ihm saß ein älterer Mann in Jeans und weißem [15] T-Shirt, in den Prospekt einer Firma vertieft, die sich auf die Emigration nach Kanada spezialisiert hatte. Der Prospekt glich einem Test. Oder eher einem Fernsehgewinnspiel. Frage: »Welche Ausbildung haben Sie?« Drei mögliche Antworten: »Höhere technische – drei Punkte«, »Mittlere technische – zwei Punkte«, »Höhere geisteswissenschaftliche – ein Punkt«. Viktor schielte unten auf das Ende der Seite. »Zählen Sie Ihre Punkte zusammen, und wenn Sie 15 und mehr erreicht haben, zögern Sie nicht, sich an uns zu wenden – Sie haben ausgezeichnete Chancen, Bürger des Landes mit dem Ahornblatt zu werden!«
    Viktor nickte. Dann schielte er trotzdem noch mal nach den Fragen und zählte seine Punkte. Mit Mühe kamen acht zusammen. Ihm winkte das Land des Ahornblatts nicht. Er seufzte erleichtert. Das Fehlen von Chancen machte viel freier als eine Fülle davon.
    Von der Bushaltestelle bis nach Hause waren es etwa dreihundert Meter. Man mußte an einem Kindergarten, einer Schule und einem kleinen Platz vorbei.
    Viktor hatte keine Lust, sich zu beeilen. Am Kindergarten blieb er stehen und betrachtete ein Grüppchen, das unter Anleitung einer jungen Erzieherin ›Eisenbahn‹ spielte. Die Zwei- und Dreijährigen liefen lustig schwankend, die Hände auf die Schultern des Vordermanns gelegt, auf einer unsichtbaren Spur um den Sandkasten herum. Genau wie Pinguine.
    Viktor vertiefte sich in die Gesichter der Kinder. Er dachte an Sonja, erinnerte sich an Mischa-Nichtpinguin. Komisch, daß Pinguine länger lebten als Nichtpinguine… Allerdings war auch das fraglich, er mußte sich [16] erst noch davon überzeugen, daß es Mischa-Pinguin gutging.
    Nachdem er ein Weilchen dagestanden und die Kinder beobachtet hatte, ging Viktor weiter. Es lief sich nun leicht. Als Viktor vor seiner Haustür haltmachte, schaltete sich der bis dahin funktionierende Autopilot wieder aus, und im Bewußtsein trat Verwirrung ein. Er hob den Kopf und sah zu seinen Fenstern hinauf. Ein Gewicht senkte sich förmlich von dort auf seine Schultern herab. Viktor seufzte und betrat den Hausflur.
    Auf der Treppe kam ihm von oben die Nachbarskatze Maschka entgegen. Viktor entspannte sich einen Moment lang, aber kaum war er bei seiner Etage angelangt, da war jegliche Entspanntheit wie weggeblasen. Er stand vor der ihm vertrauten, unbezwingbar scheinenden Eisentür. Alles wie immer. Nur daß jetzt ein zweites Schloß eingesetzt war, einen halben Meter unterhalb des alten. Viktor musterte es vorsichtig. In der Jackentasche hielt er den alten Schlüssel umklammert, aber es war, als ob dieses neue Schloß mit seiner Öffnung den schweren, von der Handfläche gewärmten Messingschlüssel direkt auslachte.
    Viktor trat einen Schritt zurück und sah sich die Fußmatte vor der
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