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Philosophische Temperamente

Titel: Philosophische Temperamente
Autoren: P Sloterdijk
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bewußten Lebens war der Platonismus gleichsam das Über-Ich des weltmächtig werdenden europäischen Rationalismus. Auch wenn Platons generöse Suche nach dem guten Leben im guten Gemeinwesen von Anfang an mit dem Mangel, bloße Utopie zu sein, behaftet schien, so gab sie doch Maß und Richtung an für die höchsten Ansprüche des philosophischen Begehrens: Die Freundschaft mit der Wahrheit verstand sich als Sorge um den Stadt- und Weltfrieden und als Engagement für dessen fortgehende Neustiftung aus dem Geist der Selbsterkenntnis.
Nietzsches Wort vom Philosophen als Arzt der Kultur ist der Intention nach schon für Platon durchaus wahr. Es konnte nicht ausbleiben, daß diese Prätentionen als überschwenglich abgetan wurden; ja, man hat in ihnen den Vorschein dessen erkennen wollen, was man im 20. Jahrhundert die totalitäre Versuchung nannte.
    Nichtsdestoweniger bleibt Platons Entdeckung gültig, daß es einen wie auch immer problematischen Zusammenhang zwischen persönlicher Weisheit und öffentlicher Ordnung gibt. Und auch wenn die Philosophie, wie in der gesamten Spätantike, im Grunde bereits seit Alexander dem Großen, in eine tiefe Entpolitisierung zurücksank, so blieb ihr – wie einer ersten Psychotherapeutik – eine unbestreitbare Zuständigkeit für die Fragen des inneren Friedens erhalten; dieser mochte wie eine Vorleistung für den äußeren wirken – ein überlegenes stilles Leuchtfeuer in einer aufgewühlten Welt. Die platonische Tradition kam mit der stoischen und später mit der epikureischen Lehre darin überein, daß sie den Philosophen als Experten für Seelenfriedensforschung definierte.
    Wenn wir bis heute Gründe haben, uns an die Anfänge der Philosophie bei den Griechen zu erinnern, so vor allem deswegen, weil es die Philosophie war, durch die sich die indirekte Weltmacht Schule, die uns noch immer beherrscht und beirrt, den sich entwickelnden Stadtgesellschaften aufzuzwingen begann. Mit dem Philosophen
tritt ein anspruchsvoller Erziehertypus auf den Plan, der es sich vornimmt, die städtische Jugend nicht länger nur am Spalier der Konventionen aufwachsen zu lassen, sondern sie nach überlegenen und künstlichen, der Form nach universalen Maßstäben zu formen.
    Das Gespann Sokrates und Platon markiert den Durchbruch der neuen Erziehungsidee; sie treten gegen den Konventionalismus und Opportunismus der Rhetoriklehrer und der Sophisten mit dem Plädoyer für eine umfassende Neuprägung des Menschen hervor. Paideia oder Erziehung als Heranbildung des Menschen für eine latent oder manifest imperiale Großwelt ist nicht nur ein Grundwort des antiken Philosophierens, sondern benennt auch das Programm der Philosophie als politischer Praxis. An ihm läßt sich ablesen, daß die Geburt der Philosophie durch die Heraufkunft einer neuen riskanten und machtgeladenen Weltform bedingt war – wir nennen sie heute die der Stadtkulturen und der Imperien. Diese erzwang eine Neudressur des Menschen in Richtung auf Stadtund Reichstauglichkeit. Insofern darf man behaupten, daß die klassische Philosophie ein logischer und ethischer Initiationsritus für eine Elite junger Männer – in seltenen Fällen auch für Frauen – gewesen ist; diese sollten es unter der Anleitung eines fortgeschrittenen Meisters dahin bringen, ihre bisherigen bloßen Familien- und Stammesprägungen zu überwinden zugunsten einer weitblickenden
und großgesinnten Staats- und Reichsmenschlichkeit. So ist Philosophie gleich an ihrem Anfang unvermeidlich eine Initiation ins Große, Größere, Größte; sie präsentierte sich als Schule der universalen Synthesis; sie lehrt, das Vielfältige und Ungeheure in einem guten Ganzen zusammenzudenken; sie führt ein in ein Leben unter steigender intellektueller und moralischer Belastung; sie setzt auf die Chance, der zunehmenden Weltkomplexität und der übersteigerten Hoheit des Gottes durch eine fortgehende Bemühung um Seelenerweiterung zu entsprechen; 7 sie lädt ein zum Umzug in den mächtigsten Neubau: in das Haus des Seins; sie will aus ihren Schülern Bewohner einer logischen Akropolis machen; sie weckt in ihnen den Trieb, überall zu Hause zu sein. Für das Ziel dieses Exerzitiums bietet uns die griechische Tradition den Terminus sophrosyne – Besonnenheit – an, die lateinische den Ausdruck humanitas. Sofern die antike philosophische Schule also paideia ist, Einführung in die erwachsene Besonnenheit, die Humanität bedeutet, vollzieht sie eine Art Übergangsritus zur
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