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Philosophische Temperamente

Titel: Philosophische Temperamente
Autoren: P Sloterdijk
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unmöglich geworden, initiatische Aufgaben nur noch mit schamanischen Techniken wahrzunehmen; die demokratische streitlustige Stadt
begünstigt die Trance nicht mehr. Nach Sokrates und Platon kann als erwachsen nicht mehr nur derjenige gelten, von dem die Ahnen und Götter des Stammes Besitz ergriffen haben. Die städtischen Lebensformen erfordern einen neuen Typus von Erwachsenen, dem die Götter nicht zu nahe treten – das heißt zugleich: Sie stimulieren eine Form von Intelligenz, die von Tradition und Wiederholung auf Forschung und »Erinnerung« umstellt. Offenbarungen und Evidenzen entstehen jetzt nicht mehr durch Ekstasen, sondern durch Schlüsse: Die Wahrheit selbst hat schreiben gelernt; Satzketten führen zu ihr hin. Darum verändert sich in Platons Doktrin der Sinn von Gedächtnis radikal: Was wir um jeden Preis uns hätten merken sollen, haben wir, Platon zufolge, beim Sturz in diese Welt vergessen; was wir hier auswendig lernen, ist verworren oder nutzlos. Die »Erinnerung« an ein pränatales, apriorisches oder reines Wissen soll künftig die mythologische und rhapsodische Gedächtniskultur überflüssig machen: So setzt die Revolution des Wissens durch das Apriori ein.
    Mit einiger Freiheit ließen sich die platonischen Prozeduren mit einer Psychoanalyse vergleichen, in der wir uns nicht an verdrängte Urszenen, sondern an getrübte Urbilder und an verdunkelte mathematische Wesenheiten erinnern. Ob solche Erinnerungen es zur völligen Transparenz bringen können, mag fraglich bleiben. Auf jeden Fall heißt Denken unter menschlichen Bedingungen für
Platon: nicht mehr die volle Luzidität des Himmels teilen. Die Sterblichen leisten, solange sie in diesen Körpern da sind, ihren Tribut an den Unterschied aller Unterschiede: Indem sie das meiste nur undeutlich wissen, erleiden sie den Bruch zwischen der Transparenz dort oben und der trüben Sicht hier unten. Wir sind dazu verurteilt, in allem mit einem Zusatz an Dunkelheit rechnen zu müssen. Philosophie ist immerhin ein Unternehmen zur Aufhellung des Zwielichts, das wir bevölkern.
    Es war folgerichtig, daß die philosophische Rede die überkommenen Mythen und Meinungen zurückzudrängen begann; statt der märchenfrohen Narkosen und der rhapsodischen Enthusiasmen strebte sie einen Zustand der »kritischen« Nüchternheit an, der seit jeher als das Arbeitsklima des authentischen Philosophierens gegolten hat; freilich hat der Platonismus mit seiner Lehre von den schönen Manien und von der sobria ebriatas – nüchterner Trunkenheit – noch einen Kompromiß der Kritik mit der Begeisterung geschlossen, mögen auch solche Konzessionen den späteren trockenen Schulen fremd werden. Sofern sie Aufklärung war, konnte die Philosophie nichts anders, als die altreligiösen Seelenverfassungen und die kruden Göttergeschichten zu entzaubern; aber in dem Maß, wie sie ihre Schüler auf ein unbedingtes höchstes Gut einschwor, setzte sie zugleich eine Wiederverzauberung durch das lebendige Allgemeine ins Werk. Erst wo
diese höhere Bezauberung mißlang – etwa unter dem Eindruck, daß das Argumentieren mehr Probleme schafft als löst – entstanden Skepsis und analytischer Leerlauf; dann konnte die Dauerreflexion auch zum Symptom schizoider Verstimmungen werden; diese sehen anstelle von Strahlungen aus dem Wahren-Guten-Schönen überall nur betrübliche Grauwerte. Tatsächlich hat schon die spätere antike Philosophie dem Überdruß an ihr selbst die Argumente geliefert. Hierin ist der Akademismus der Alten mit dem zeitgenössischen verwandt.
    In ihrer optimistischen Frühzeit hatte die philosophische Erziehung nicht weniger im Sinn als eine Umbeseelung oder Umbegeisterung der Individuen; sie setzte sich das Ziel, aus verworrenen Stadtkindern erwachsene Weltbürger zu machen, aus inneren Barbaren zivilisierte Reichsmenschen, aus berauschten Meinungsinhabern besonnene Wissensfreunde, aus trübseligen Sklaven der Leidenschaften heitere elbstbeherrscher. Es gab am Anfang der europäischen Pädagogik eine Zeit, in der das Wort Schule immer schon Schule der Vornehmheit bedeutete. Der moderne Ausdruck Erziehung gibt von diesem Ehrgeiz des ursprünglichen Projekts Philosophie kaum noch etwas wieder; doch auch der aktuelle Begriff von Philosophie, sofern er den Betrieb einer mürrischen Fakultät und die uferlosen Diskurse einer Subkultur neidischer Denksportler meint, erinnert kaum noch an den
festlichen Ernst des platonischen Vorhabens, von einer Schule aus mit einer
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