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Philosophische Temperamente

Titel: Philosophische Temperamente
Autoren: P Sloterdijk
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Heranzüchtung des stadt- und reichstauglichen »großseelischen« Menschen. 8 Es wäre unbedacht, in den Werten der paideia und der humanitas nur unpolitische Charakterideale zu sehen. Daß von dem Weisen alle Menschen als Verwandte erkannt werden – ist diese Doktrin wirklich nur eine humanitaristische Naivität, geboren aus einer übertriebenen Ausweitung des Familienethos? 9 Eine
Erinnerung an die Hochzeiten der europäischen Gymnasialkultur zwischen 1789 und 1945 mag verdeutlichen, daß die europäischen Nationalstaaten allesamt auf ein humanistisches Erziehungswesen setzten, um ihre Jugend für Aufgaben im Rahmen nationalimperialer Programme zu konditionieren. So sehr Philosophie und Erziehung schon in antiker Zeit auf den einzelnen abheben, fällt doch der Akzent aller »Arbeit an sich selbst« zunächst und zumeist auf die Ertüchtigung der einzelnen zur »Staatsmenschlichkeit«. Erst als die Spaltung zwischen Macht und Geist sehr tief geworden war, wie in der römischen Kaiserzeit, geriet das Philosophieren unter das Leitbild des autarken Weisen, der den Weltmächten den Rücken gekehrt hat.
    Die klassische Philosophie stellte ihren Adepten in Aussicht, sie könnten es in einem chaotischen Kosmos zur Heiterkeit bringen; zum Weisen wird, wer das Chaos als Maske des Kosmos durchschaut. Wer in die Tiefenordnungen durchblickt, gewinnt Verkehrsfähigkeit im Ganzen; kein Ort im Sein ist ihm mehr ganz fremd; darum ist die Liebe zur Weisheit die Hochschule der Exilfähigkeit. Indem sie den Weisen so witzig wie programmatisch als kosmopolités, als Weltallbürger, bezeichnete, versprach die Philosophie Überlegenheit über ein Universum, das seiner Form nach schon ein wüster Markt der Götter, der Bräuche und der Meinungen war – zugleich ein Schlachtfeld,
auf dem mehrere Staatswesen um die Hegemonie kämpften. Man hat wohl dem Umstand zu wenig Beachtung geschenkt, daß Platons Jugend – er ist wohl im Jahr 427 geboren – ganz in die Zeit des Peloponnesischen Krieges (431- 404) fiel; die ominöse Distanz des Philosophen zur empirischen Wirklichkeit und die oft bemäkelte idealistische Tendenz zur Abhebung vom bloß Gegebenen verstehen sich leichter, wenn man bedenkt, daß der Autor in seinen jüngeren Jahren kaum eine andere Welt erlebt hatte als eine von kriegerischen Leidenschaften verzerrte.
    In moderner Sprache würde man die klassische Philosophie mithin als Orientierungsdisziplin bezeichnen; wollte sie für sich werben, so konnte sie es vor allem mit dem Versprechen tun, den Wirrwarr der vorgefundenen Verhältnisse durch einen geordneten Rückgang auf sichere Grundlagen zu übersteigen – in heutiger Terminologie spräche man von Komplexitätsreduktion. Der Philosoph als Eliminator von schlechter Vielfalt trug Züge eines Mysterienführers, der die Schüler in die Region der ersten Gründe begleitete, von wo aus die befriedigenden großen Übersichten zu gewinnen wären. Jeder Aufstieg zu höheren Standorten fordert aber seinen Preis. Wollte sich der Philosoph als Erzieher für einen noch nicht da gewesenen Typus vernunftgeleiteter Menschen empfehlen, so mußte er sich das Recht nehmen, neue Maßstäbe für das Erwachsenwerden in der Stadt und im Reich aufzurichten. In der
Tat veränderte sich der Sinn von Erwachsenwerden beim Übergang der Stammesgesellschaften zu politischen und imperialen Formen auf radikale Weise.
    Wer im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts vor Christus erwachsen werden wollte, mußte sich darauf vorbereiten, in einem geschichtlich kaum gekannten Ausmaß Macht zu übernehmen – oder zumindest die Sorgen der Macht zu seinen eigenen zu machen. Als Dozenten des Erwachsenwerdens unter Stadt- und Reichsbedingungen wurden die philosophischen Erzieher somit zu Hebammen bei der risikoträchtigen Geburt von mächtigeren, in größere Welten versetzten Menschen. Damit in diesen höheren Geburten nicht Monstren ans Licht kämen, war eine Kunst vonnöten, die neue Machtfülle durch eine neue Besonnenheit auszubalancieren.
    Seit den ältesten Stammeskulturen sind symbolische Geburten an der Schwelle zur Erwachsenheit eine Sache ritueller Initiationen. An ihre Tradition knüpft unvermeidlich die moderne paideia an; sie steht hier, auch als seine Gegnerin, in der Nachfolge des Schamanismus, sofern dieser nicht nur eine archaische Heilkunst bezeichnete, sondern zugleich die Kompetenz umfaßte, die Jüngeren in die Geheimnisse des Erwachsenenlebens einzuweihen. In der weltoffenen Polis ist es aber
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