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Philosophische Temperamente

Titel: Philosophische Temperamente
Autoren: P Sloterdijk
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hat.
    Allein in dieser unwiederholbaren Konjunktur, die eine entscheidende Phase in der nachmetaphysischen Transformation des philosophischen Denkens markiert, konnte sich vollziehen, was man später das Ereignis Foucault nennen wird. Hatte Nietzsche verkündet, Dionysos sei Philosoph geworden, so setzt Foucault auf die These: Dionysos wird Archivar. In den Aktenkellern der psychiatrischen Anstalten, der Asyle, der Kliniken und später auch der Gefängnisse macht sich ein junger Gelehrter an eine ungeheure Sichtungsarbeit, beflügelt von der Bereitschaft, auch in dem Grau der Verwaltungssprachen vergangener Epochen den Blitz des Ereignisses wahrzunehmen, von dem die Literaturontologie des Spätsurrealismus nur im Blick auf die Seinsweise der Sprache im autonomen Gedicht gehandelt hatte. Bei diesen Forschungen des dionysischen Archäologen formte sich jene singuläre Synthese
aus Flamboyanz und Strenge, von monumentaler Gelehrsamkeit und eklatantem Gelächter, die bis heute nicht aufgehört hat, die akademische Umwelt zu irritieren und die verwandten Intelligenzen zu begeistern. Foucaults Subversion des philosophischen Wissens verrät sich nicht zuletzt in seiner Abkehr von den Problemspielen der offiziellen Philosophie und in seiner resoluten Hinwendung zu »materialen« Arbeiten; man könnte den frühen Foucault nahezu mit einem Psychologen und einem Literaturkritiker, den mittleren und späten um ein Haar mit einem Sozialhistoriker und einem Sexualwissenschaftler verwechseln.
    Dennoch bleibt Foucault, auch wenn er sich in den Archiven der Humanwissenschaften und der Disziplinarpraktiken vergräbt, im eminentesten Sinne Philosoph, und jede Seite seiner Schriften dementiert die Möglichkeit einer Verwechslung mit dem Diskurs der Einzeldisziplinen. Immerhin, es gibt in seinem Œuvre kaum einen Text, der im Sinn der Zunft als ein Beitrag zu den sogenannten Grundproblemen der Philosophie geschweige denn als Klassikerexegese gelesen werden könnte. Gleichwohl hielt Foucault das Universum des orthodoxen metaphysischen Denkens mit professioneller Kühle im Blick; wie kaum ein anderer wußte er, was es zu meiden, zu überwinden, zu ersetzen galt, wenn das Unternehmen eines Denkens jenseits der abgekarteten Spiele von Substanz, Subjekt
und Objekt gelingen sollte. »Welt als Sphäre, Ich als Zirkel, Gott als Zentrum – das ist die dreifache Blockade des Ereignis-Denkens.« Mit dieser ruhigen Nebenbemerkung legt er einen weltenweiten Abstand zwischen den metaphysischen Klassizismus mitsamt seinen halbmodernen Anpassungen in der phänomenologischen Bewegung und in den freudo-marxistischen Sozialphilosophien und das andere, das neue Denken, das sich für ihn zunächst und vor allem in der minutiösen Untersuchung regionaler und datierter Diskurs- und Machtregime artikulieren sollte.
    Maliziös und temperamentvoll hat er registriert, wie gewisse Philosophen ihn als den verlorenen Sohn der Transzendentalphilosophie beklagten, während manche Historiker seine Arbeiten als wilde und allzu glanzvolle Geschichts-Fiktionen beargwöhnten. Vertreter beider Disziplinen taten sich schwer mit der Einordnung eines Denkers, der sich nicht für die Akkumulation eines Kapitals an bleibenden Wahrheiten zu interessieren schien, sondern der auf die Bühne trat wie jemand, der eine Geschichte der Blitze zu schreiben im Sinn hatte. Falls Foucault sich mit ontologischen Absichten getragen hätte – er könnte in der Tat behauptet haben, daß alles wahrhaft Seiende von der Natur der Blitze sei. Der Sinn von Sein ist nicht Bestand und zeitlose Wesensbewährung, sondern Ereignis, Horizonteröffnung und Zeitigung von vorübergehenden
Ordnungen. Während aber die deutschen Adepten Nietzsches und Heideggers den Begriff Ereignis meist in einer kultischen Besinnlichkeit verschwimmen lassen, ist Foucault der Durchbruch zu einer ereignisphilosophisch orientierten »Grundlagen«forschung gelungen, für die er den leise ironischen Titel Archäologie in Vorschlag brachte. Deren Prinzip und Absicht hat niemand besser verstanden als Gilles Deleuze, der mit der glücklichen Formel von der »Universalgeschichte des Zufälligen« seine eigenen eng verwandten Intentionen prägnant umschrieb.
    Foucaults Philosophentum wäre aber nicht vollständig gewesen, hätte es nicht zugleich mit dem Epistemologen und Archäologen auch den Politiker und Ethiker Foucault gegeben, der sich der Herausforderung stellte, das Kernstück aller Philosophie, die Theorie der Freiheit, neu
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