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Philosophische Temperamente

Titel: Philosophische Temperamente
Autoren: P Sloterdijk
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generis zu machen, den Charakter eines Kampfes auf Leben und Tod annehmen kann. Darum ist Nietzsche in letzter Instanz mehr Psychagoge als Psychologe, auch wenn sein seelenkundliches Genie am Eingang zum 20. Jahrhundert, als dem eigentlich psychologischen, wie eine monumentale Wächterfigur aufgestellt scheint; selbst Sigmund Freud, der Herold der Psychologisierung, hatte zeitlebens Anlaß zu leugnen, daß er durch das Tor Nietzsches auf sein Territorium gelangt sei.
    Als Psychagoge der Moderne ist Nietzsche der Führer in die schöne Versuchung, aus dem Material von Talent und Charakter große Lebensgebilde zu schaffen. Es scheint, daß Nietzsche damit mehr als nur eine Rationalisierung eigener Lebensschwierigkeiten in die Welt gesetzt hat. Er reagiert mit seinen pädagogisch-psychagogischen Impulsen auf die säkularen Veränderungen der Erziehungsverhältnisse in der modernen Welt. Man könnte in sozialpsychologischer Sicht Modernität definieren als die Unmöglichkeit, Individuen zu Ende zu erziehen: Es gibt nur noch Schulabschlüsse, aber keine Reife mehr. Daher werden Eltern und Lehrer mit ihren Zöglingen systematisch »nicht mehr fertig« – und zwar darum, weil die fertige Welt selbst, an die sich die erzieherische Anpassungsarbeit anlehnen wollte, ihrerseits durch Dynamisierung weggebrochen ist. Erziehung als Reim zwischen Welt und
Jugend läuft ins Leere – und wer ihre faktischen Ergebnisse wirklich schon als Endresultate gelten lassen wollte, wäre gewiß einer von jenen letzten Menschen, an denen sich Nietzsches anspornende Verachtung entzündete. Was bei Nietzsche als ästhetische Weltanschauung auftaucht, ist in Wahrheit ein starkes psychagogisches Programm für eine Weltzeit postklassizistischer Menschensteigerungsstrategien. Es reagiert auf die Notwendigkeit, unter der moderne Individuen sich befinden, den Horizont ihrer bisherigen Erziehung zu überschreiten. Nietzsches berüchtigtes Wort vom Übermenschen bedeutet in diesem Kontext nichts anderes als die Aufforderung, aus dem Halbfabrikat, das Mütter und Lehrer in die Welt entsenden, ein autoplastisch sich fortbildendes Ich-Kunstwerk zu schaffen. Aus diesem Programm folgt konsequent der Übergang vom Vorrang der Selbsterkenntnis zu dem der Selbstverwirklichung.
    Wem dies zu hoch gegriffen scheint, möge bedenken, daß hundert Jahre nach Nietzsche selbst die Gewerkschaften die Notwendigkeit lebenslanger Weiterbildung predigen. Wenn man vom Begriff Übermensch den geniereligiösen Faktor abzieht, kommt man automatisch auf den Begriff der Lerngesellschaft. In ihr wäre allerdings der spezifische nietzscheanische Stachel, die Aufreizung zu göttlicher Individualisierung, verschwunden. Dergleichen ließe sich nur wieder scharf machen durch eine Rückkehr
zu radikalen Elitekonzepten, die auch von einem deregulierten Übermenschen-Markt oder Kunstmarkt nicht neutralisiert werden könnten. Hiervon ist heute weit und breit keine Spur in Sicht, vorausgesetzt, man nimmt in den Kunsttyrannen und autogenen Göttern des aktuellen weltweiten Starsystems mehr die Hanswurste wahr, die sie sind, als die Inkarnationen, die sie sein wollen.
    Dies vorausgesetzt, darf heute Nietzsche, der hilflose Meister des gefährlichen Gedankens an menschliche Höherzüchtung, als ein domestizierter Autor gelten; immerhin hat auch er an einer der exponiertesten Stellen seines Werks für sich den Titel Hanswurst reklamiert. Unter dieser – und nur unter dieser – Prämisse läßt sich in dem Theorem vom Übermenschen ein Gedanke von weltbewegender Nützlichkeit und Dringlichkeit entdecken. Er weist darauf hin, daß die aktuelle Kultur ein Erziehungsund Selbsterziehungssystem erfinden muß, das globalwelttaugliche Individuen in hinreichend hohen Zahlen hervorzubringen imstande wäre. Ohne eine solche Selbsterziehungs- und Selbstzüchtungsrevolution besitzt die aktuelle Menschheit keine Chance, ihre sich ankündigenden Probleme zu lösen. Es käme darauf an, den Selbsterziehungsernstfall und den ökologischen Ernstfall zur Konvergenz zu bringen. Was Nietzsche angeht, so hat er an entscheidender Stelle seine Arbeit als Umwertung aller Werte beschrieben. Die kulturrevolutionäre Relevanz dieser
Formel ist unerschöpft, auch wenn ihre bisherigen Deutungen – einschließlich der Selbstdeutung Nietzsches – unbefriedigend blieben. Das antike kynische Motiv »die Münze umprägen« war von Nietzsche aufgegriffen worden, um eine antichristliche Wende ins Werk zu setzen; es war, wie man
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