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Philosophische Temperamente

Titel: Philosophische Temperamente
Autoren: P Sloterdijk
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Environments nimmt sich die Phänomenologie aus wie das philosophische Testament der vortechnischen Welt. Noch für Husserls eigenwilligsten Schüler, Martin Heidegger, der seinem Meister in so vielem untreu werden sollte, blieb die Technik eine metaphysisch suspekte Größe; er nahm in ihr ein Gebilde des phänomenologischen Unrechts wahr und meinte ein ontologisches Irrgeschehen in ihr zu erkennen. Am Denken Heideggers wie Husserls läßt sich ablesen, daß eine Philosophie der Technik nicht gelingen kann auf dem Boden einer Theorie, die nach »altabendländischer« Konvention vom Primat der Entsprechung zwischen Denken und Sein ausgeht. Von der epochalen Suggestivkraft der phänomenologischen Sicht gibt freilich auch die heutige – gleichsam zur Grundlagentheorie der technischen Welt avancierte – Systemtheorie noch ein indirektes Zeugnis, in der das transzendentale Subjekt – umformatiert zu der
Figur des beobachteten Beobachters – hartnäckig wiederkehrt. Enthüllt nicht überhaupt der aktuelle Zug zu systemtheoretischem Denken eine technikadäquate Fortschreibung Husserlscher Motive? In seiner Originalgestalt hält das Husserlsche Werk – das nicht zufällig ausklingt mit dem vereinsamten Ruf nach einem neu zu weckenden Heroismus der Vernunft – die Erinnerung wach an Größe und Beschränkung europäischer Rationalitätskultur.

WITTGENSTEIN
    Kaum ein halbes Jahrhundert nach dem Tod des Philosophen gehört der Name Ludwig Wittgensteins – wie der Martin Heideggers – zum intellektuellen Mythos des 20. Jahrhunderts. Wenn auch Vicos Unterscheidung zwischen ziviler und mönchischer Philosophie seit der Französischen Revolution hinfällig geworden zu sein schien: Man ist doch geneigt, diese Differenz um Wittgensteins willen noch einmal zu reaktivieren. Wie wollte man die Emergenz des Phänomens Wittgenstein inmitten eines Zeitalters politischer Philosophien und kämpfender Illusionen anders deuten denn als das neue Aufbrechen eines Denkens im Habitus des eremitischen Weltabstands? Zu dem noch immer nachleuchtenden Zauber von Wittgensteins Werk wie zu dem spröden Nimbus seines Lebens gehört die unvermutete Wiederkehr des mönchischen Moments im moralischen Zentrum der bürgerlichen Kultur. Wie kaum ein anderer bezeugt er die moralische Sezession einer intellektuellen Elite von der Totalität mittelmäßiger Zustände.
    Daß der Mensch etwas sei, was überwunden werden müsse: Diese Überzeugung war in den Auserwählten der Wiener Bildungswelt vor dem Großen Krieg nicht nur unter
ihrer nietzscheanischen oder lebensphilosophischen Gestalt gegenwärtig; sie machte sich auch geltend in Formen eines bürgerlichen Heiligenkults, in dessen Mitte die Figur des künstlerischen und philosophischen Genies schwebte. Ihr kam es zu, Erlösung zu bringen von Ambivalenz und Mediokrität; ihr oblag die Aufgabe, einer unerbittlich anspruchsvollen Jugend den Weg zu weisen von den Niederungen beschämender Gewöhnlichkeit zum Hochland verklärender Berufungen. Dem Genius wurde Grandiosität zur Pflicht, Selbstübersteigung zur Mindestbedingung integren Daseins. Für den jungen Wittgenstein hieß das: Der Mensch ist ein Seil, das zwischen dem Tier und dem Logiker gespannt ist.
    Wittgensteins Lebens- und Denkgeschichte ist die Passion eines Intellekts, der sich seinen Ort in der Welt und an deren Grenze zu erklären versucht. Was die Mitwelt des Philosophen als dessen strenge und anstrengende Aura wahrnahm, war die Hochspannung eines Menschen, der der ständigen Konzentration auf seine Ordnungsprinzipien bedarf, um nicht den Verstand zu verlieren. Als Borderliner des Seins hat es der Philosoph nie mit weniger zu tun als mit dem Block der Welt im Ganzen, auch wenn er nur über die korrekte Verwendung eines Wortes in einem Satz nachdenkt. Ihm ist zumute, als könne in der Lücke zwischen zwei Sätzen die Welt samt ihrer Ordnung verloren gehen. So wird für ihn das Denken zu einem Navigieren
zwischen Inseln der formalen Klarheit, die im unklaren Ungeheuren zerstreut liegen. Tatsächlich ist Wittgenstein ein Denker, der ein Werk aus einzelnen Sätzen hinterlassen hat. Es war sein unerhörtes Präzisionsbedürfnis, das aus ihm einen Märtyrer der Inkohärenz machen sollte. Ihm selbst war schmerzlich bewußt, daß er an einer Art von Lord-Chandos-Neurose laborierte – einer Störung des Vermögens, in Worten Weltzusammenhänge zu behaupten und an diese Zusammenhangsbehauptungen zu glauben. Zeitlebens scheiterte Wittgenstein an
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