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Philosophische Temperamente

Titel: Philosophische Temperamente
Autoren: P Sloterdijk
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bekannte Sottise des britischen Spätidealisten Whitehead zu widerlegen, so dürfte man sich nicht damit begnügen, auf Ausnahmen und Gegenströmungen zu verweisen. Schlüssiger wäre es, wenn man sich auf ein alternatives Denken berufen könnte, das sich seinem gesamten Habitus und Duktus nach dem platonischen oder, allgemeiner gesprochen, dem alteuropäischen Projekt metaphysischer Wesenswissenschaften entzogen hätte. Tatsächlich kündet sich seit der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft im späteren 18. Jahrhundert eine solche Revolution der Denkungsart in verschiedenen Wellen an. Mit der junghegelianischen Wendung zu einer Realphilosophie von unten – sei es als Arbeitsanthropologie, sei es als materialistische Trieblehre, sei es als Existenzialismus – stand die Forderung nach einem radikal veränderten Modus des Philosophierens auf der Tagesordnung einer Intelligenz, die entschlossen war, dem Prozeß der Moderne seine angemessenen Denkmittel zu geben. Dieses Denken »von unten« sollte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem Denken des Außen radikalisieren.
Doch erst nach Nietzsches Inversion des Platonismus und nach Heideggers Neuansatz der philosophischen Besinnung von einem »anderen Anfang« her ließ sich mit größerer Bestimmtheit erkennen, was es mit einem Denken auf sich haben würde, dessen generativer Pol effektiv aus dem Bannkreis metaphysischer Wesenstheorien herausgetreten wäre. Es würde sich um ein Denken handeln müssen, das sich energisch genug von den eleatischen Versuchungen befreit hätte und das sich darauf verstünde, sich an das Abenteuer eines ganz verzeitlichten und bewegten Daseins auszuliefern, ohne Rückhalt zu suchen in den klassischen Fiktionen eines transzendenten Subjekts oder eines absoluten Objekts.
    Die nachmetaphysische Herausforderung hat im 20. Jahrhundert eine Reihe von charakteristischen Antworten provoziert, unter denen es einige nicht nur zu prägnanten Projekten, sondern auch zu öffentlicher Resonanz und zu akademischen Wirkungen gebracht haben. Es sind hier vor allem zu nennen: der relativistische Neopragmatismus, die postmarxistische Theorie des kommunikativen Handelns, die Leibphilosophie der neophänomenologischen Schule, die dekonstruktivistische Textkritik, die soziologische Systemtheorie und die neokynische Ästhetik des Alltäglichen. Erst vor den Hintergrund solcher weitläufig verwandten intellektuellen Praktiken gesetzt, tritt die spezifische Differenz des Foucaultschen Denkens
in seiner großartigen Eigensinnigkeit und Radikalität hervor. In ihm wird vollends erst erkennbar, was es für »den Menschen« bedeutet, aus dem Tode Gottes Konsequenzen zu ziehen. Bei Foucault, so scheint es, hat die Kunst, keine Fußnoten zu Platon zu schreiben, sich erstmals zu einer alternativen Klassizität entfaltet, und dies, obwohl er durch seine lodernde Intellektualität in das Geschäft der philosophischen Untersuchungen ein hohes manisches Potenzial einbrachte, das zu anderen Zeiten unweigerlich als ideale Mitgift für das Denken des Einen wirksam geworden wäre. Das Phänomen Foucault gleicht hierin dem Nietzsches, bei dem auf analoge Weise quasi-platonische Leidenschaften in antiplatonische Exerzitien mündeten. Das Foucaultsche Denken, das so resolut allen Illusionen von der Geborgenheit des Besonderen in der Einheit des Sinns den Rücken gekehrt hatte, wies mit Stolz auf die Prägungen hin, durch die es während seiner formativen Phase zu der Überzeugung gebracht wurde, ganz auf der Höhe des Gedankens zu manövrieren: Bekenntnishaft datiert es sich in eine Zeit, in der Nietzsche, Blanchot und Bataille schon Epoche gemacht haben. Diese Autoren, diese Werke, diese Vorstöße sind für Foucault die Garanten einer zeitgenössischen Sensibilität, die sich ebenso dem Taumel der Entgrenzungen wie der Schärfe der Analyse geöffnet hatte. Sie sind die Denker, die ihre Leser mit dem Wahnsinn impfen und mit dem Ungeheuren vermitteln.
Jedoch war es nicht nur die poetische Aufhebung der Metaphysik in Surrealismus, die bei der Initiation des jungen Philosophen den Ton angeben sollte; für Foucault, den künftigen neuen Historiker, den Archäologen, wird auch die Verwandlung der idealistischen Wesenswissenschaften in Strukturalismus entscheidend werden – ein Vorgang, der für einen relativ kurzen, aber überaus folgenreichen Zeitraum dem französischen Denken den Primat in der Zeitgeschichte der Humanwissenschaften und ihrer Philosophie verschafft
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