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Philosophische Temperamente

Titel: Philosophische Temperamente
Autoren: P Sloterdijk
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Erklärbar nur aus seiner Freiheit, ist der Mensch das Wesen ohne Entschuldigung.
    Im zusammenfassenden Rückblick erscheint Sartre heute als vorläufig letzter Heros in einer Reihe gewaltiger europäischer Freiheitsphilosophien. Seit der junge Fichte die Standarte der Subjektivität an sich gerissen und mit manischem Schwung gegen sein, wie er meinte, vollendet sündhaftes Zeitalter vorangetragen hatte, ist die Kette der Denker nicht abgerissen, die das Wesen des Menschen als Freiheit auslegten. Wie seine Vorgänger begriff Sartre den Menschen im Herd seines Bewußtseins als jenes unruhige Unding, das sich, bei steigender Selbstklärung, immer radikaler in seine Undinglichkeit versenkt. Mensch sein heißt für ihn, sich als aktives Nichts, als lebendige Bodenlosigkeit übernehmen. Daß Subjektivität Abgründigkeit meint – das schreckte Sartre weniger als die meisten seiner Vorgänger in dieser Entdeckung. Selbst der resolute Fichte hatte seinen Aufweis der bodenlosen Subjektivität zuletzt damit zu überwinden versucht, daß er die eigene Spontaneität in das Ausdrucksleben einer Gottheit, die alles tut, einstellte; Friedrich Schlegel, der Meister-Ironiker unter den romantischen
Subjektivisten, konvertierte zu der katholischen Kirche, die seit dem frühen 19. Jahrhundert ein Asyl für neue Bodenlose wurde; sie spielte gewiß gern den Schoß für erwachsene Ungeborene, die der Kälte der modernen Außenwelt entgehen wollten. Die Vorhut unter den anonymen Absurden, die den Kern der Moderne ausmachen, versuchte es mit der auf das Leben angewandten Kunst; sie gaben sich selbst Halt in Attitüden und im Leben nach modischen Schnitten. Eine große Mehrheit von Angekränkelten der Bodenlosigkeit jedoch suchten nach Wegen, sich selbst zurückzubetten in das solidarische Leben von Staat, Gesellschaft und Klasse. Der Größte unter denen war kein geringerer als der Philosoph Hegel, der zu Lebzeiten das Heil fand, indem er Hochämter auf den preußischen Staat als sittlichen Organismus zelebrierte; ihm taten es zahllose Liebhaber der reparierten Ganzheiten nach; so manchem verging im Staatsdienst wie im Revolutionsdienst das mal du siècle; so viele Holismen, so viele Altäre; andere flohen an die Fronten von heißen und kalten Kriegen. Es versteht sich von selbst, daß die Sucht nach Bindungen eine Fülle von Fundamentalismen heraufbeschwören mußte. Seit zweihundert Jahren ist die Modernität eine Bühne, auf der sich ein einziger Problemstoff in den verschiedensten Stücken realisiert; sie alle könnten heißen: Wie die freien Bodenlosen wieder in feste Verhältnisse kamen.

    Was Sartre angeht, so blieb er zeitlebens seiner Weise, die bodenlose Freiheit zu leben, treu. Für ihn war das Nichts der Subjektivität kein herabziehender Abgrund, sondern eine heraufsprudelnde Quelle, ein Überschuß an Verneinungskraft gegen alles Umschließende. Im Unterschied zu vielen Subjektivitätsdenkern hat Sartre sich in seiner Abgründigkeit wohlgefühlt; Anlehnung war für ihn mehr Pflicht als Kür. Was er engagement nannte, war die Fortsetzung des dégagement mit anderen Mitteln; am Vorrang der Loslösung vor der Neuanbindung gab es für ihn keinen Zweifel. Er beherrschte die Kunst, fast alles, was er tun mußte, spontan zu wollen; so kam er, wo es ging, dem Zwang zuvor. Glissez, mortels, n ’ appuyez pas!, das Wort seiner Großmutter, mehrfach von ihm an exponierten Stellen seines Werks zitiert, gab sein Lebensmotto wieder: Gleitet, ihr Sterblichen, lastet nicht. Als Sartre mit Hegel und Marx auf dem Rücken zu gleiten versuchte, da fing auch er, der unbedingt Elegante, zu lasten an. All seine Versuche, Marxist zu werden, waren eine anstrengende theoretische Komödie, um sich für sein Genie und für sein Bewußtsein, unvergleichlich zu sein, zu entschuldigen. Fast bis zuletzt, blieb er, der auch sein eigener Therapeut sein wollte, unheilbar produktiv.
    Es gibt in unserer Zeit kein tieferes Schriftstellerwort als sein spätes Bekenntnis: »Ich habe das geistliche Gewand abgelegt, aber ich bin nicht abtrünnig geworden: ich
schreibe nach wie vor. Was sollte ich sonst tun?« Vielleicht war er der fleißigste, tätigste philosophische Autor des Jahrhunderts. Seine vermeintlichen Schulden bei der weniger bevorzugten Menschheit hat er mit hohen Zinsen zurückgezahlt.

FOUCAULT
    Daß die gesamte Geschichte der abendländischen Philosophie nichts anderes sei als eine lange Serie von Fußnoten zu Platon: Wenn es denn nötig wäre, die
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