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Philosophische Temperamente

Titel: Philosophische Temperamente
Autoren: P Sloterdijk
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der Herausforderung, einen wirklichen »Text« im Sinne fortlaufender Rede zu verfassen. Er spürte schärfer als jeder Denker vor ihm die Schwierigkeiten der Konjunktionen oder Satzverknüpfungen, und kein Problem hat ihn zeitlebens tiefer bewegt als die Unmöglichkeit, von der Beschreibung von Tatsachen zu ethischen Sätzen überzugehen. Seine Notizen sind das Monument eines überhellen Zögerns vor der Welterzeugung im zusammenhängenden Text. In ihrer radikalen Modernität bezeugen seine Schriften die Zerrüttung der Analogie zwischen rundem Kosmos und fließender Prosa. Aber gerade weil Wittgenstein nicht mehr ein behauptungsfreudiger System- und Totalitätsphilosoph traditionellen Stils zu sein vermochte, war er gleichsam dazu prädestiniert, das Patchwork der lokalen Lebensspiele und ihrer Regeln ans Licht zu heben. Nicht umsonst wurde seine Theorie der Sprachspiele zu einem
der mächtigsten Argumente des modernen und nachmodernen Pluralismus.
    Blickt man von heute aus auf die Wellen der Wittgenstein-Rezeptionen zurück, so läßt sich über die historische Bedeutung jenes Wiener Originals, das es in die britische Gelehrtenwelt verschlug, zumindest so viel schon sagen: Er impfte die anglo-amerikanische Welt mit dem Wahnsinn der ontologischen Differenz, indem er vorkritische Empiriker anhielt zum Staunen darüber, nicht wie die Welt, sondern daß die Welt ist. Zugleich infizierte er die kontinentale Philosophie mit einem neuen Präzisionsstil-Gedanken, der in den Milieus der analytischen Schule blühende Ausschläge hervorrief. Es hat den Anschein, als seien beide Parteien inzwischen dabei, die Phase der ersten Immunreaktionen zu überwinden. Seit Allan Janiks und Steven Toulmins klassischer Studie Wittgenstein’s Vienna scheinen die Weichen gestellt für einen gesundeten Umgang mit den Anregungen des magischen Solitärs. Wer dürfte sich weiter auf Wittgenstein berufen, nur um ihn zum Patron kauziger Denksportler zu wählen? Wer dürfte ihn noch immer als den positivistischen Zerstörer der abendländischen Reflexionskultur denunzieren? Nach dem Abklingen der reaktiven Verzerrungen tritt das Profil eines Denkers an den Tag, der unzweifelhaft zu den Sponsoren der künftigen Intelligenz gehören wird. Noch in ihren logischen Härten und menschlichen Einseitigkeiten
hält Wittgensteins Intensität Geschenke von unabsehbarer Tragweite an die Nachwelt bereit. Sie bezeugt für all jene, die nach ihm zum Denken erwachen, die Erschwerung der ethischen Fragen. Sollte je eine Kritik der martyrologischen oder Zeugnis gebenden Vernunft – mithin eine gültige Ethik – geschrieben werden können, ein entscheidendes Kapitel darin müßte dem Menschen Wittgenstein gewidmet sein. Er gehörte zu den lebendig Geschundenen, die mehr als andere wissen, was Anstand unter Belastung bedeutet. Zu seinem Werk, dem notierten wie dem verschwiegenen, wird man die bewundernswerte Anstrengung hinzurechnen müssen, sich selbst und sein eigenes »wundervolles Leben« ertragen zu haben.

SARTRE
    Drei Jahrzehnte nach seinem Tod am 15. April 1980 erscheint Jean-Paul Sartre bereits als eine monumentale Gestalt der neueren Philosophie- und Literaturgeschichte. Er, der Mann der Wörter und der Bücher, hat sich zu seinen Ahnen versammelt, den Klassikern, den Unsterblichen, den festgestellten Autoren. Nur der Tod, scheint es, konnte ihn daran hindern, sich zu verjüngen; erst die Klassizität nahm ihm die Möglichkeit, sich weiter zu widersprechen. Er war verliebt wie kaum einer in die Freiheit, sich selbst zu mißfallen. Seine Lebensgeste, gefährlich für einen Philosophen, berauschend für ihn selber und seine Leser, war der ständige Aufschwung, die Losreißung vom eigenen Gewordensein; als Schreibender schrieb er immer nur die neue Seite. Zu einem Genie der analytischen Biographie wurde er, in fremder wie in eigener Sache, weil er in jedem Bewußtsein den Punkt ertastete, an dem Menschen zu stolz sind, um eine Vergangenheit zu haben. Unaufhörlich dachte er über die Entbindung von der Schwere der Geschichte nach; er spürte mit einer Schärfe, die ihn zu einer Art Weltgewissen erhob, daß es den Menschen entehrt, müde, eingeschlossen und mit sich selbst identisch zu sein. Seine
Philosophie ist ein Kampf gegen die Obszönität, die bürgerlich bequeme Entfremdung; er zieht ins Feld gegen den in die Wirklichkeit eingeklebten, den fertigen Menschen. Es geht darum, kein Ding zu sein: on a raison de se révolter; wer sich auflehnt, hat recht.
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