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Philosophische Temperamente

Titel: Philosophische Temperamente
Autoren: P Sloterdijk
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nämlich daß es immer noch ein metaphysischer Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht – daß auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Platos war, daß Gott die Wahrheit, daß die Wahrheit göttlich ist... wie aber, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird...« 1
     
    Die Geschichte der europäischen Philosophie lässt sich als eine Stafette vorstellen, in der ein bei Platon – und einigen seiner Vorläufer, namentlich Parmenides und Heraklit – entzündetes Feuer durch die Generationen getragen wurde.

    Das Bild vom Fackellauf des Denkens durch die Jahrtausende ist mit den gegensätzlichsten Wertungen verträglich, gleich ob man diesen Lauf umstandslos als Wahrheitsgeschichte auffassen möchte oder nur als Problemgeschichte oder gar, wie Nietzsche suggerierte, als Geschichte unseres längsten Irrtums. 2 Mit gutem Recht hat Marsilio Ficino – Schlüsselfigur des florentinischen Neoplatonismus im 15. Jahrhundert – in der Einleitung seines Kommentars zum Symposion (De amore) Platon den »philosophorum pater« genannt. 3
    Tatsächlich war die europäische Philosophie in ihrer idealistischen Hauptströmung gleichsam die Folge einer platonischen Patristik; sie prozessierte als ein Komplex von Lehrsätzen und Machtworten, die in letzter Instanz aus einer einzigen zeugungsmächtigen Quelle zu fließen schienen. Die platonischen Meisterschriften haben wie eine Samenbank der Ideen gewirkt, aus der sich zahllose spätere Intelligenzen befruchten ließen, oft über große zeitliche und kulturelle Entfernungen hinweg. Dies gilt nicht nur für die athenische Akademie selbst, die als Urbild der europäischen »Schule« ihren Lehrbetrieb fast ein Jahrtausend lang in einer ununterbrochenen Folge aufrechtzuerhalten wußte (387 v. Chr. bis 529 n. Chr.); Platons Lehre erwies sich zudem als ein Wunder an Übersetzbarkeit und strahlte auf eine Weise, die man evangelisch nennen könnte, in fremde Sprachen und Kulturen ein – wofür die
römische und die arabische 4 Rezeption, später auch die deutsche, die wichtigsten Beispiele bieten. Sie werden an Bedeutung nur noch übertroffen durch die Einschmelzung des Platonismus in die christliche Gotteslehre. Was Adolf von Harnack einst die Gräzisierung oder Verweltlichung der christlichen Theologie genannt hat, die akute gnostische wie die allmähliche katholische, steht weithin im Zeichen des göttlichen Platon. 5 Im übrigen transportieren manche der spekulativen Theosophien des Islam bis in die Gegenwart eine Fülle platonisierender Motive.
    Somit ist das Corpus Platonicum mehr als eine Sammlung klassischer Schriften unter anderen; es ist das Gründungsdokument für das gesamte Genre der europäischen idealistischen Philosophie als Schreibweise, als Lehre und als Lebensform. Es repräsentiert einen neuen Bund der Intelligenz mit den Menschen in der Stadt und im Reich; es lanciert die gute Nachricht von der logischen Durchdringbarkeit dieser trüben Welt. Als Evangelium von dem guten Grund aller Dinge verankert der Platonismus das Streben nach Wahrheit in einem frommen Rationalismus – und es waren nicht weniger nötig als die zivilisatorischen Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts, um diese Verankerungen auszureißen; als Phasen der Losreißung haben wir die Schopenhauersche Metaphysik des blinden Weltwillens, Nietzsches Perspektivismus und Fiktionalismus, den materialistischen Evolutionismus der Natur- und Sozialwissenschaften
und zuletzt die neueren Chaos-Theorien vor Augen. In ihrer klassischen Schulform wollte die Lehre Platons eine Anweisung zum seligen Leben in der Theorie vermitteln; sie war im wahren Sinn des Wortes eine Religion des Denkens, die es sich zutraute, Untersuchung und Erbauung unter einem Dach zu vereinen. Manche Religionshistoriker meinen, zeigen zu können, daß die Lehre Platons in manchen Aspekten geradezu eine Modernisierung schamanistischer Traditionen darstellte. Von alters her kannten diese die Himmelsreisen der Seele und den heilsamen Verkehr mit Geistern des Jenseits; der überhimmlische Ort Platons, wo die reinen Ideen bei sich schweben, wäre in dieser Sicht nur ein logisierter Himmel und der Aufstieg des Denkens zu den Ideen nur eine modernisierte Seelenreise auf den Fahrzeugen des Begriffs. 6
    Mit seinem vornehmen Erkenntnisoptimismus und seiner Ethik des
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