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Philosophische Temperamente

Titel: Philosophische Temperamente
Autoren: P Sloterdijk
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einer neuerlichen Medienrevolution – die Neulektüre unserer philosophischen Tradition fruchtbar zu werden verspricht.
    Die moderne Welt vollzieht ihrem Selbstverständnis nach ein umfassendes antiplatonisches Experiment. Dieses scheint nur möglich geworden zu sein, weil die Fundierung des Wissens und Handelns in der »alteuropäischen« Idee eines höchsten Gutes aufgegeben werden konnte. Der dominierende technologische Pragmatismus der Neuzeit gewann freie Bahn erst, nachdem die metaphysischen Hemmungen, die einem grenzenlosen moralischen und physischen Experimentieren im Weg standen, beiseite geräumt oder zumindest entkräftet waren. In dieser Sicht lässt sich verstehen, warum in der Modernität eine nachmetaphysische Enthemmung dominiert. In dieser sind Befreiungen mit Destabilisierungen ambivalent verwoben. Die Konsequenzen aus der Loslösung vom metaphysischen Fundament – Dekonstruktivisten würden sagen: von der Fundament-Illusion – schlagen doppelt zu Buch; die Ermächtigung zum unbegrenzten Projektieren
wird bezahlt mit der Entdeckung einer innerweltlichen Bodenlosigkeit. Wenn es heute bei so vielen Zeitgenossen ein tiefsitzendes Unbehagen in der Modernität gibt, dann hat dieses ohne Zweifel mit der zwiespältigen Erfahrung von stetigem Machtzuwachs und unaufhaltsamer Entsicherung zu tun. Wo Ambivalenz herrscht, fallen positive Bilanzen schwer. Immer mehr Menschen zweifeln mit immer stärkeren Begründungen daran, daß das Weltexperiment der Neuzeit sich noch als globales Gewinnspiel darstellen lasse; zu evident ist inzwischen das Anschwellen der Risiken und Verluste. Wollte man die Regel benennen, die über die Ökologie des neuzeitlichen Geistes herrscht, so müßte man offenlegen, warum Modernisierung unvermeidlich einen Fortschritt im Bewußtsein der Haltlosigkeit mit sich bringt. Ließe sich dies allen Akteuren und Zuschauern des modernen Spiels ausreichend deutlich machen, so wäre für sie auch evident, wieso diese Tendenz sich nicht durch die Flucht zu alten Grundlagen umkehren läßt. Der Fundamentalismus, der heute weltweit aus dem Mißtrauen gegen die Modernität entspringt, kann immer nur Hilfskonstruktion für Hilflose liefern; er erzeugt nur Scheinsicherheiten ohne Weiterwissen; auf lange Sicht ruiniert er die befallenen Gesellschaften durch die Drogen der falschen Gewißheit. Als Gegengift gegen die fundamentalistische Versuchung empfiehlt es sich, das Buch des europäischen philosophischen Wissens von neuem
aufzuschlagen und den Zeilen und Wegen des klassischen Denkens noch einmal zu folgen – soweit die Kürze des Lebens es uns erlaubt, solche aufwendigen Wiederholungen zu wagen.
    Das Motto »Wieder denken« setzt die Aufforderung, neu zu lesen, voraus. Alle fruchtbaren Neulektüren profitieren von den Winkelbrechungen und Perspektiveverschiebungen, die unseren Rückblicken auf die Überlieferung innewohnen, sofern wir bewußte Zeitgenossen der aktuellen Umbrüche in den Wissens- und Kommunikationsverhältnissen der eben entstehenden telematischen Weltzivilisation sind. Viele Anzeichen sprechen dafür, daß die gegenwärtigen Generationen durch einen Weltformbruch hindurchgehen, der an Tiefgang und Folgenreichtum mindestens ebenso bedeutsam ist wie jener, der vor 2500 Jahren die klassische Philosophie provozierte. So könnte ein Studium jenes alten Bruchs auch die Verständigung über den aktuellen inspirieren.
    Besseres Wissen gewinnen wir heute nicht, ohne an den Abenteuern teilzunehmen, die bei der Revision der eigenen Geschichte auf uns zukommen. Ein neuer Aggregatzustand von Intelligenz wird auch den alten Schulen des philosophischen Wissens neue Informationen abgewinnen. Platon wieder lesen: Das kann bedeuten, sich darauf einzulassen, mit Platon – und Platon zum Trotz 11 – an der Aktualisierung unserer Intelligenz zu arbeiten.

ARISTOTELES
    Im 4. Jahrhundert vor der christlichen Zeitwende gab sich der Genius des europäischen Wissenschaftsgedankens zum ersten Mal in monumentaler Vollständigkeit zu erkennen. Staunenerregend durch die Fülle seiner Interessen, den Umfang seiner Schriften, den Scharfsinn seiner begrifflichen Distinktionen steht Aristoteles wie eine Portalfigur von fast mythischer Gewalt am Eingang zu den europäischen Hohen Schulen des Wissens. Im Blick auf seine denkerische und schriftstellerische Lebensleistung drängt sich der Gedanke auf, daß das, was seit dem Mittelalter Universität heißen sollte, in der Gestalt eines einzigen Mannes vorweggenommen
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