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Philosophische Temperamente

Titel: Philosophische Temperamente
Autoren: P Sloterdijk
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Jahrtausend, in dem sich die menschliche Vernunft von dem Trauma ihrer einseitigen Trennung vom Besten nie mehr wird erholen können. Erst im Zeichen dieser menschlicherseits irreparablen Trennung
jedoch kann das Motiv einer einseitig in Gott gesammelten Liebe übermächtig werden. Wo die Gegenseitigkeit verloren und die Liebenswürdigkeit des Menschen sich in Nichts aufgelöst hat, fängt das Reich der Gnade an. Die Philosophie vermag wohl das Geschenk und die Gabe zu bedenken, das Regnum der Theologie jedoch etabliert sich durch den neuen Leitbegriff Gnade. Die Gnadenlehre dient dazu, die menschliche Verlorenheit unter Gott dogmatisch zu betreuen. Augustinus hat die Schleusen geöffnet, durch die seither primärmasochistische Energien ins europäische Denken einströmen; er hat – mit einer Radikalität, die ihn geradezu in den Rang einer höheren Gewalt erhob – das menschlich Unheilbare zum Hauptmotiv seiner Wirklichkeitsdeutung erhoben. Von da an heilt nicht einmal mehr die Liebe schlechterdings, es sei denn, sie wäre die göttliche, durch den Christus wiederhergestellte und geschenkte; aber auch als solche bleibt sie von einer quälenden Partikularität verschattet; denn die Liebe Gottes hat jetzt nicht mehr den Charakter einer allgemein und bedingungslos teilhabegewährenden Zuneigung, sondern den einer stark selektiven, herablassenden Begnadigung.
    Wo schließlich der nur auf menschliche Weise liebende Mensch die Bühne betritt, mithin der Egoist, der immer sich selber und seine Gelüste meinen muß, dort sieht der spätere Augustinus durchwegs das Stigma des Verlustes
und die Spur einer Urschuld, die tiefer reicht als jede Tilgungsmöglichkeit und jedes menschenmögliche Gelingen. Man könnte sagen, daß Augustinus auf diese Weise die Philosophie von ihrer antiken manischen Konstitution losgelöst und sie unter das Patronat der Depression gestellt hat. Auch für ihn ist schon der Mensch eine vergebliche Leidenschaft, aber der Grund der Vergeblichkeit ist nicht wie in den modernen Existenzialismen die absurde Struktur der conditio humana. Der augustinische Mensch führt ein verlorenes und verschwendetes Leben, weil er durch das Mal der Ursünde prinzipiell aus der Geborgenheit in Gott ausgenommen ist und bis zum äußersten in der Heilsungewißheit aushalten muß. Für Augustinus verbindet sich in der Undurchsichtigkeit Gottes das für den Menschen Unheilbare für immer mit dem Ungewissen. Wohl gibt es auch weiterhin für einige wenige die Fülle des Heils und den freien Zugang zur Glorie des Ursprungs. Aber die naturgegebene Teilhabe der menschlichen Geistseele an der Vortrefflichkeit des unbedingt Guten reicht nicht mehr aus, um ihr einen zureichenden Grund für ihre Selbstbergung und ihre sichere Rückführung ins Beste vor Augen zu stellen. In der augustinischen Sphäre behalten auch die Frömmsten Grund, an ihrer Rettung bis zuletzt zu zweifeln.
    Angesichts dieser Einblicke in die Selektivität Gottes muß der intellektuelle Optimismus der Hellenen scheitern.
Unter Augustins schwermütiger Meditation wächst Gottes Selbstgenügsamkeit zu einer menschlicherseits uneinnehmbaren Festung heran, in die nur aufgenommen wird, wer aufgrund eines undurchdringlichen göttlichen Willensakts von vorneherein unter die Nicht-Verlorenen gezählt blieb. Augustins masochistische Grundoperation entspringt der Identifikation mit einem Gott, gegen den die menschliche Seele immer unrecht hat und dem sie auch dann unbedingt recht geben müßte, wenn sie selbst zu den Verworfenen gehörte.
    So wie Pascal eines Tages angesichts der Offenbarungsungewißheit auf die Existenz Gottes wetten wird, so wettet Augustinus angesichts der Auserwählungsungewißheit auf die unbedingte Resignation. Seine psychologische Genialität erweist sich darin, daß er im Menschen den resignationsunwilligen Selbstbehaupter in immer neuen Wendungen und Rückzugsstellungen aufspürt. Und gerade diese Beobachtung – daß der Mensch sich nie ganz und hintergedankenlos ergibt – inspiriert Augustinus zu seinem Musterprozeß gegen die eigenen Jugendeitelkeiten und auch noch gegen die Illusionen seiner mittleren Jahre, in denen er seine Haut im christlichen Philosophismus zu retten versucht hatte. Als Staatsanwalt Gottes vertritt der furchtbare Bischof die Partei der Anklage gegen sich selbst und alle anderen Schicksalsgefährten in der allzumenschlichen Selbstbezüglichkeit.
Er entblößt sich, den der Erbsünde und der Erbrebellion Angeklagten, in
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