Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Philosophische Temperamente

Titel: Philosophische Temperamente
Autoren: P Sloterdijk
Vom Netzwerk:
allen Schlupfwinkeln seines unresignierten Eigenwillens. Dabei zieht er ans Licht, daß im inneren Menschen nicht nur die Wahrheit wohnt, sondern auch der Grund zur Verzweiflung, die narzißtische Bosheit, die gottentfremdete Korruption, die Spur des satanischen Separatismus.
    Was Augustinus hier auf den Weg brachte, war nicht weniger als jene Fundamentalinquisition gegen die menschliche Eigenliebe, die zu den Konstanten der altabendländischen Mentalitätsgeschichte gehören wird, noch Fichtes Verdikt gegen das von sich selbst begeisterte endliche Ich, noch Schellings Analyse der egoistisch mißbrauchten menschlichen Freiheit, noch Dostojewskijs Wort vom Menschen als dem zweibeinigen undankbaren Tier, noch Sigmund Freuds spätere Theoreme von der menschlichen Autoerotik, noch Jacques Derridas Kritik des sich selbst reden hörenden Wortes, noch die neukonservativen Klagen über den Massen-Individualismus unserer Tage – sie gehören alle in die Geschichte der von Augustinus und den katholischen Vätern lancierten antinarzißtischen Inquisition. Das Axiom des Verfahrens gegen den getrennten, von sich selbst eingenommenen Menschen lautet, daß sich selbst mißfallen muß, wer Gott gefallen soll. Die Wahrheit über die Wahrheit ist, daß sie für die Betroffenen furchtbar sein soll.

    Die Moderne hat entdeckt, daß der Mensch auch ohne Gott sich selbst mißfallen kann. Wahrheit und Depression entfalten sich in einer Korrelation zueinander, die sich ohne Gottes unermeßlichen Sadismus und ohne Gottes unermeßliche Gnade denken läßt. Augustins Beiträge zur Deutung der menschlichen Trennung vom guten Grund und seine scharfen Dekonstruktionen menschlicher Selbstsicherungen sind es, die dem christlichen Klassiker eine unerschöpfliche nachchristliche Leserschaft sichern.

BRUNO
    Aus der glanzvollen Reihe der Renaissance-Philosophen, die das neuere europäische Denken aus der Vorherrschaft der allmächtigen christlichen Scholastik herauszuführen begannen, ragt die verkohlte Silhouette Giordano Brunos eindrucksvoll hervor. Seit seinem römischen Feuertod im Februar des Jahres 1600 steht sein Name, umwoben von Gerüchten pantheistischer Ruchlosigkeit und kosmologischer Kühnheit, in den Märtyrerakten des neuzeitlichen Freien Geistes. Seine posthumen Schicksale haben etwas von dem irrlichternden Glanz und von der üblen Fortuna seiner Lebensgeschichte behalten. Sie erwecken den Eindruck, als hätten seine Anhänger und Interpreten mehr in seiner Asche gestochert als in seinen Schriften gelesen.
    Tatsächlich kennt die Geistesgeschichte wenige Autoren, deren Nachleben in solchem Ausmaß von Projektionen und von Vereinnahmungen für die Interessen träumerischer Sympathisanten bestimmt ist. So ist die Geschichte der Bruno-Rezeption mit wenigen Ausnahmen die einer gutgesinnten Leseschwäche; so mancher anlehnungsbedürftige Nachfahre hat Bruno in den Mund gelegt, was dieser gesagt hätte, wäre er der gewesen, für den man ihn gerne halten wollte. So haben ihn Bündnissucher
aller Couleurs für ihre Sache eingespannt, Freidenkergruppen, Antiklerikale und Pantheisten an erster Stelle; jüngst hat sogar ein gewisser katholischer Pietismus nach ihm gegriffen. Man drängt sich danach, neben ihm verbrannt zu scheinen, um von seinem Opfer-Nimbus zu profitieren. Solche Zudringlichkeiten mögen ein für die Geschichte dissidenter Philosophen typischer Mechanismus sein. Sie erklären sich, soweit sie auf einem Mangel an besserem Wissen beruhen, zu einem Gutteil aus dem Umstand, daß seit dem 19. Jahrhundert das Lateinische bei den Gebildeten Europas zur Totensprache verfallen ist, so daß die entscheidenden lateinisch verfaßten Schriften Brunos lange Zeit wie in einer Gruft versunken lagen. Wer sich der Kraft und Größe von Brunos Denken in seinen eindrucksvollsten Manifestationen aussetzen will, muß sich zunächst darum bemühen, den »Magier« Bruno, den Gedächtnis-Künstler, den Materiosophen, den Bilder-Ontologen und den Lehrer der allwendigen Verwandlungen aus seiner lateinischen Krypta zu befreien, um seine Anregungen im Licht der modernen Sprachen zu überdenken.
    Es ist Elisabeth von Samsonows Verdienst, daß sie – nicht zuletzt angeregt durch die Arbeiten der großen alten Dame der Renaissance-Forschung Frances A. Yates – damit begonnen hat, deutschen Lesern den Zugang zu einigen der am längsten vergessenen lateinischen Schriften
Brunos zu eröffnen. Sein Werk bezeugt einen verkannten Aspekt im Mythos der Neuzeit: Es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher