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Philosophische Temperamente

Titel: Philosophische Temperamente
Autoren: P Sloterdijk
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Gebäude des Wissens nur als Gemeinschaftswerk vieler Generationen konsolidiert werden kann und daß die forschende Intelligenz sich in der Zeit bewähren und optimieren muß. Von ihm konnten spätere Gelehrte lernen, wie sie in der Geschlechterfolge der Wissenschaften stehen sollten: mit selbstbewußter Dankbarkeit den Vorgängern gegenüber, mit diskretem Stolz – wenn eigene neue
Leistungen ihn rechtfertigen – vor den Nachfahren. So ist, auch was die Tradition des Wissens anbelangt, Aristoteles ein Mann der Mitte. Als Naturforscher wie als Ethiker hat er das Wunder des Seins im Stetigen und Normalen verherrlicht.

AUGUSTINUS
    Augustinus steht vor der Nachwelt als die einzige spirituell und psychologisch bis ins Detail ausgeleuchtete Denkerpersönlichkeit der frühchristlichen Zeit – ja vielleicht ist er überhaupt der am deutlichsten sichtbare Charakter der Antike, das einzige weltgeschichtliche Individuum vor der Renaissance, von dem wir gewissermaßen Großaufnahmen besitzen. Dieses prekäre Privileg der Deutlichsichtbarkeit bedeutet nicht, daß Augustinus, obschon doch offensichtlich noch ganz an antike Auffassungen von Welt und Menschlichkeit gebunden, manche Tendenzen des neuzeitlichen Individualismus oder Aspekte der modernen Portraitkultur vorweggenommen hatte. Auch ist er gewiß kein Existenzialist ante litteram. Daß Augustinus sich durch sein Werk so rückhaltlos an die Mitwelt und Nachwelt ausgeliefert hat, nicht zuletzt kraft seiner epochemachenden Confessiones, durch die er zum Patriarchen einer Literatur der Selbstentblößer wurde, ist die Folge eines theologischen Prozesses, den der Bischof von Hippo gegen sich selbst geführt und gegen sich selbst gewonnen hat. Wenn wir von Augustinus ein so bewegend konkretes, menschlich und denkerisch tiefenscharfes Bild besitzen, dann vor allem deswegen, weil Augustinus selbst die Indizien
seines Lebenswandels und seiner sündhaften Neigungen als Beweisstücke gegen sich zusammengetragen und ins reinigende Feuer des Bekenntnisses zu werfen versucht hat. Augustinus ist sichtbar geworden und geblieben, weil er sich selbst ernst nahm als Exempel eines Menschen, der mit Gottes Hilfe Gott schließlich doch ernster nahm als sich selbst.
    »Spät habe ich dich geliebt, o Schönheit, so alt und doch so neu, spät habe ich dich geliebt.« In diesem Habitus der Selbstpreisgabe verrät sich, wie weit Augustinus – obschon er als philosophierender Theologe den platonischen Vorgaben bis zuletzt verpflichtet blieb – sich von den hellenistischen Motiven ursprünglichen Philosophierens entfernt hatte. Denn während der philosophische Hellenismus wesentlich von der Erhebung der erkennenden Seele zu den hohen Gegenständen ihrer Betrachtung geprägt ist, setzt sich in der augustinischen Rede von Gott und den Menschen eine sich fortwährend radikalisierende Ambivalenz durch. Indem Augustinus das menschliche Innere als Behälter der Spuren Gottes mit den höchsten Auszeichnungen versieht, ergibt er sich zugleich einem unwiderstehlichen Sog zur Herabsetzung des Menschen unter eine transzendente Majestät. In dieser Hinsicht markiert das Werk Augustins nicht nur die lateinische Phase in der allmählichen Gräzisierung des Christentums, in welcher man das Prinzip der frühen Dogmengeschichte zu erkennen
geglaubt hat. Das Phänomen Augustinus ist ideenund mentalitätsgeschichtlich schicksalhaft geworden, weil durch ihn der bewegendste Gedanke der alten Welt, Platons Deutung der Liebe als Heimweh nach dem präexistenziell intuierten Guten, einer folgenreichen, verdüsternden Neudeutung, ja einer Umkehrung unterworfen wurde. Für die Platoniker führt der Abstieg der Geistseele in den Körper zu einer Gedächtnistrübung, von der die inkarnierte Seele sich erholt in dem Maß, wie sie ihrer Berufung entspricht, die Erinnerung an das Gute in sich zu reinigen und zu vervollkommnen. Die Seele des nachgedunkelten Augustinismus ist hingegen von einer unheilbaren Korruption befleckt. Darum wird ihre Arbeit der Erinnerung an das Übergute in der verzweifelten Einsicht enden, daß sie aus eigener Kraft nie mehr zur unzerstörten Teilhabe am Licht des Guten zurückfinden kann.
    Diese augustinische Wendung – von der unmöglich zu entscheiden ist, ob ihr der Charakter einer Entdeckung (also einer Erkenntnis) oder der einer Erfindung (also einer Projektion) zukommt – führt zur christlichen Katastrophe der Philosophie. Sie eröffnet ein mehr oder weniger manifest melancholisches
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