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Philosophische Temperamente

Titel: Philosophische Temperamente
Autoren: P Sloterdijk
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war. Das Gehirn des Aristoteles war gleichsam der Senat einer an Fakultäten reichen Universität. In ihm traten – schon unter dem Vorsitz der philosophischen Lehre von den Ersten Dingen, die auch Theologie heißt – die Natur- und Geisteswissenschaften, wenn man so anachronistisch reden dürfte, in der Weite ihrer Spektren zusammen. In einigen Disziplinen wie der Logik war Aristoteles Pionier und Vollender in einem. Es nimmt nicht wunder, daß die Geschichte der europäischen Universität in ihrer ersten, der mittelalterlichen Hälfte – vierhundert Jahre lang – zugleich die Geschichte
der latinisierten Aristoteles-Studien gewesen ist. Wenn sich in dieser Zeit ein gottesgelehrter Scholast auf die Autorität des großen Griechen berufen wollte, so konnte er dies mit der Redewendung: ut ait philosophus – wie der Philosoph sagt – ungefährdet tun. Nie ist ein Denker so geehrt worden wie Aristoteles mit dieser Formel. Als das frühneuzeitliche Denken den Ausbruch aus den Bleikammern des scholastischen Autoritarismus vollzog, da war es wieder der Name des Aristoteles, nun in negativer Akzentuierung, der die Tendenz markierte; der Ruf: Hier irrte Aristoteles! konnte zum Kennwort einer risikofreudigen Eigenständigkeit bei der Neu-Durchforschung von allzu verschulten und verformelten Wissensfeldern werden.
    Im Blick auf das Lebenswerk des Aristoteles läßt sich erkennen, daß das »theoretische Leben«, der vielbeschworene bíos theoretikós des antiken Weisheitsliebhabers, nicht im Sinn einer modern verstandenen Muße mißdeutet werden darf. Was die Römer später als vita contemplativa zu bezeichnen pflegten, war oft nichts anderes als die vita activa der philosophischen Untersuchungen. Die Theorie selbst gründet in Askese, in unermüdlicher Übung, in täglicher Anspannung der logischen und moralischen Kräfte. Philosophen sind Athleten der Kategorien. Gewiß ist die intellektuelle Askese nicht ohne ihre eigene Lust; wenn Aristoteles in seiner »Metaphysik« den Satz aufstellte, daß
alle Menschen von Natur aus nach Erkenntnis streben, so verallgemeinerte er zu einer anthropologischen These, was für ihn eine permanente persönliche Erfahrung war: in seiner unaufhörlichen Bewegung genießt der tätige Intellekt sich selbst. In diesem Erkenntnis-Narzissmus wird eine kleine Gottähnlichkeit manifest. Noch in seinen trockensten Aufzählungen und arbeitsamsten Distinktionen bezeugt das aristotelische Gedankenwerk einen ursprünglichen Zusammenhang zwischen Wissen und Freude.
    Man hat sich gelegentlich die Frage vorgelegt, ob nicht Aristoteles als Erzieher und Weisheitslehrer kompromittiert sei, weil er Alexander, den sogenannten Großen, nicht verhindert hat. In dieser Frage schwingt die Überzeugung mit, die Philosophie komme erst ans Ziel, wenn sie jeden Willen zur Macht verwandelt und alle manischen Ambitionen überstiegen hätte. Das heißt den Forscher am Maßstab des Weisen messen. Weisheit im überschwenglichen oder esoterischen Sinn war Aristoteles’ Sache nicht. Für ihn war mit dem Wort Besonnenheit das Menschenmögliche gesagt. Von Aristoteles konnte man wohl lernen, wie man logische und empirische Untersuchungen kunstgerecht anstellt, nicht aber, wie man in verworrenen Leidenschaften abstirbt, um in erleuchteter Selbstbeherrschung wiedergeboren zu werden. Aristoteles hat es nicht vermocht, aus seinem glänzenden wilden Zögling den von Platon geforderten Philosophenkönig zu machen; nach
Jahren des Umgangs mit dem größten Denker seiner Zeit blieb in Alexander der Glaube lebendig, daß es Höheres gebe als die Philosophie. Für Aristoteles seinerseits gab es Wichtigeres als die Aufgabe, einen größenhungrigen Fürstensohn philosophisch an die Kandare zu nehmen. Alexanders ägyptische und indische Abenteuer mochten das Strohfeuer des mazedonischen Imperialismus entfachen; für ihn, den Logiker und Forscher, standen Alexanderzüge der Neugier auf der Tagesordnung, die weiterführen sollten als alle große und kleine Politik. In arbeitsreichen Jahrzehnten schuf Aristoteles ein Großreich des Wissens, dessen weitere Geschichte, wollte man sie ausführlich erzählen, zu nicht weniger geraten würde als zu dem Epos der europäischen Wissenschaften bis an die Schwelle der Neuzeit.
    Das aristotelische Imperium in Büchern mußte, als sein Autor nicht mehr am Leben war, in die Diadochenreiche der Einzeldisziplinen zerfallen. Wie kaum ein Denker vor ihm hatte sich Aristoteles bewußt gemacht, daß das
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