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Phantom der Lüste

Phantom der Lüste

Titel: Phantom der Lüste
Autoren: Hanna Nowak
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wo sie mich unter schlimmsten Schmerzen dazu brachten, den Gebrauch der dunklen Magie zu gestehen, was, wie ich wusste, mein Todesurteil war. Doch die Qualen, die sie mir zufügten, schienen in diesem Moment die schlimmere Strafe, der Tod wie eine Erlösung.“
    Enjolras atmete schwer. Er war noch immer geschwächt und Jean verspürte das dringende Bedürfnis, ihn zu halten, zu stützen und in die Arme zu nehmen.
    „Ich konnte fliehen, ein glücklicher Zufall, eine unachtsame Wache.“ Er hustete, erbrach sich fast. „Ich lebte auf der Flucht, hatte nirgends eine Unterkunft, nirgends ein Zuhause. Zu meinem Bruder konnte ich nicht zurück. Dort würden sie mich zuerst suchen. Ich durchreiste ganz Frankreich, überlegte, mich ins Ausland abzusetzen, doch der Krieg schreckte mich ab. Ich fand in den Wäldern von Gavaine Unterschlupf. Eine alte, unbewohnte Hütte wurde mein Heim. Ich versuchte, so gut es ging, mich von allem abzuschotten, doch das war nicht so einfach. Hin und wieder traf ich auf Menschen, die durch den Wald reisten. Oder Kinder, die dort spielten.“ Er warf Jean einen vielsagenden Blick zu und der erinnerte sich an das aufregende Erlebnis von damals. „Und so wurde ichnach und nach zum Phantom, die lokale Mythe, die Aufmerksamkeit auf mich lenkte und mich doch zugleich schützte.“
    Jean kniete sich zu Enjolras. „Du bist kein Mörder. Du hast alles getan, um Maria zu retten.“
    Enjolras blickte zu ihm auf und seine Augen schimmerten. Ein dankbares Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ich habe mich lange schuldig gefühlt, verantwortlich für die Misere. Hätte ihr ein anderer Arzt geholfen, vielleicht würde sie noch leben.“
    „Nein, es lag nicht an dir. Niemand hätte ihr helfen können. Niemand.“
    „Ist diese Geschichte wahr?“, fragte Vater.
    „Jedes Wort.“ Enjolras hob den Blick und sah Vater in die Augen. „Ich schwöre es bei meinem Leben. Mein Ziel war es immer, den Menschen zu helfen, nicht ihnen zu schaden.“
    „So wie Ihr meinem Sohn geholfen habt?“
    „Ich fand ihn im Wald, er war gestürzt, wie hätte ich ihn liegen lassen können?“
    Enjolras Worte klangen so ehrlich, dass auch Vater es merken musste. Jean hatte jedenfalls nicht den geringsten Zweifel.
    Vater atmete tief durch, dann nickte er. „Ihr seid das Risiko eingegangen, obwohl Ihr wusstet, dass Jean Euch womöglich erkennen und ausliefern würde.“
    Enjolras nickte.
    „Das zeugt von einem guten Herzen.“ Vater schien ein wenig beeindruckt. „Und Ihr wollt mit meinem Sohn … fortgehen?“
    „Ja, das will ich.“ Enjolras Blick glitt zu Jean und er war so voller Zärtlichkeit, dass Jeans Herz zu flattern begann.
    Er sah Vater im Augenwinkel. Er wirkte alles andere als zufrieden und ein leises Seufzen kam über seine Lippen. Doch er hatte immer noch besser reagiert, als Jean es erwartet hatte.
    „Und du, Francoise? Du fühlst dich diesem Weib zugehörig?“
    „Ja“, sagte Francoise und sah Vater fest an.
    Der schüttelte den Kopf. „Ich verstehe euch Kinder nicht. Ihr wärt ein so schönes Paar.“
    Jean fürchtete, Vater würde jetzt wieder von Enttäuschung sprechen, stattdessen sah er nur Sorge in seinem Gesicht.
    „Ich wünsche mir nur, mit Enjolras zusammen zu sein, Vater.“ Jean würde davon nicht abrücken. Das schien Vater endlich zu verstehen.

    Francoise und Jean harrten in dem kleinen Wartezimmer aus, während ihre Eltern einen Familienrat abhielten. Jean war so nervös, dass er andauernd an seinen Nägeln knabberte und wenn er zu seiner Jugendfreundin blickte, sah er, dass sie ihre Haare immer wieder um den Zeigefinger wickelte.
    „Was sie wohl entscheiden?“, fragte sie, ohne ihn anzusehen, den Blick starr auf die Tür vor ihnen gerichtet.
    Jean zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Aber sie waren erstaunlich gefasst, findest du nicht?“
    „Das kann täuschen. Papa ist ein Meister darin, seine Wut zu verbergen. Ich hoffe nur, er lässt sie nicht an Katrine aus.“
    Wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür und Emile kam herein. Der Diener nickte beiden zu.
    „Die Herrschaften werden nun erwartet.“
    Sie erhoben sich und folgten Emile durch den langen Flur zum Konferenzraum, wo beide Familien an einem Tisch saßen. Auch Sebastien war dort. Ihre Mienen waren allesamt ernst, doch Sebastiens Miene wirkte sogar ein wenig finster. Jean hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Rasch setzte er sich hin, um das Zittern seiner Knie unter der Tischdecke zu verbergen.
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