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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition)
Autoren: Kai Meyer
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sagte ich. »Für ihn können wir eh nichts mehr tun.«
    »Wir könnten vorsichtig noch mal näher rangehen.«
    Ich ahnte, was ihr durch den Kopf ging. »Um zu sehen, ob sein Geist erschienen ist?«
    »Wäre doch gut zu wissen, ob es uns wirklich getötet hätte.«
    Ich sah noch einmal zu dem winzigen Scheinwerfer in der Ferne hinüber. Er bewegte sich nicht von der Stelle und glühte in der Finsternis wie ein einsames Auge.
    »Du bleibst hier«, sagte ich. »Rühr dich nicht von der Stelle.«
    »Ich komme mit«, widersprach sie.
    Ich stand ein wenig hilflos da mit den Wasserflaschen unter dem Arm und dem Feldstecher in der rechten Hand. »Vorschlag«, sagte ich. »Wir gehen zusammen. Aber sobald du irgendwas spürst, und wenn es nur ein leichtes Herzklopfen ist, drehst du dich auf der Stelle um und rennst weg. Das musst du mir versprechen.«
    Sie nickte kurz – und machte sich auf den Weg. Es war eine ihrer schlechteren Angewohnheiten, dass sie einen häufig dazu brachte, ihr nachzulaufen. Sie hielt nichts davon, unangenehme Dinge hinauszuzögern. Sie nahm sie einfach in Angriff, ob andere mit ihr Schritt hielten oder nicht.
    Ich holte sie ein. »Lass das Zeug hier, das hält uns im Notfall nur auf.« Ich setzte meine beiden Flaschen am Boden ab, und sie legte ihre und die Tüte mit den Churros daneben.
    Noch einmal sah ich zu dem Scheinwerfer hinüber. Keine Veränderung. Ich fragte mich, ob der Fahrer uns beobachtete und ob auch er ein Fernglas besaß. Das Totenlicht reichte weit genug ins Dunkel hinaus, so dass er wahrscheinlich weit mehr von uns erkennen konnte als wir von ihm.
    Emma ging links von mir und tastete nach meiner Hand.
    Als wir bis auf fünfzig Meter heran waren und noch immer keine Veränderung spürten, blieb ich stehen und hielt sie zurück. Der Umriss des Amerikaners war inmitten der Helligkeit nun mit bloßem Auge zu sehen. Trotzdem hob ich den Feldstecher und schwenkte über die Gesichter der Geister in seiner Nähe. Aber er befand sich zu tief im Zentrum der Menge und die Helligkeit blendete mich. Die Erscheinungen überlagerten einander zu sehr, um Einzelheiten zu erkennen.
    Sehr behutsam gingen wir weiter.
    Vierzig Meter. Fünfunddreißig.
    Noch nie hatte ich meinen eigenen Herzschlag so bewusst wahrgenommen. Ich hätte meinen Puls zählen können, ohne mein Handgelenk zu berühren, so laut pochte er in meinen Ohren. Nach wie vor klang er regelmäßig und den Umständen entsprechend ruhig. Auch das Panikgefühl kehrte nicht zurück.
    Noch dreißig Meter.
    Wieder sah ich durch das Fernglas. Der Umriss am Boden hatte sich nicht bewegt. Wahrscheinlich war das Herz des Amerikaners in seiner Brust explodiert, noch bevor er sich hatte aufrichten können. Aber Gewissheit würden wir erst haben, wenn wir seinen Geist erkannten.
    Fünfundzwanzig Meter.
    Mein Mund war staubtrocken. Ich war drauf und dran, meine Vereinbarung mit Emma zu brechen und sie einfach zurückzustoßen, fort aus der Gefahrenzone. Sie hatte die Augen leicht zusammengekniffen und starrte hochkonzentriert in die Menge.
    »Da ist er«, sagte sie.
    Wir blieben stehen. Sie hob den linken Arm und deutete auf einen Punkt mitten im Totenlicht.
    »Da vorn. Gleich neben Mum und Dad.«
    Ich konnte die beiden von hier aus kaum sehen, eigentlich nur erraten, welche Geister sie meinte. Und, ja, da war einer ganz in der Nähe, der vielleicht der Amerikaner sein mochte – und ich beschloss, dass es hier und jetzt eben so sein sollte und ich meine Schwester nicht weiter einer Gefahr aussetzen würde, die gerade erst ein Menschenleben gefordert hatte.
    »Gut«, sagte ich entschieden, »dann lass uns abhauen.«
    Ich wollte gehen, aber dann zögerte ich und hob den Feldstecher. Emma hatte Recht: Da war er und lächelte wie alle anderen. Ich ließ das runde Blickfeld des Fernglases abwärtswandern, hinab an seinen nackten Beinen. Er stand inmitten des Leichnams, ragte mit den Waden aus dem Oberkörper.
    Je länger ich hinsah, desto klarer konnte ich auch den Toten sehen. Er wandte mir das Gesicht zu, Augen und Mund weit aufgerissen zu einem entsetzlichen Schrei. Er musste an eben jener Panik gestorben sein, die auch Emma und mich fast um den Verstand gebracht hätte. Ich hatte nie zuvor einen Gesichtsausdruck wie diesen gesehen, erfüllt von einem Schrecken, der schlimmer gewesen sein musste als jeder körperliche Schmerz.
    Emmas Hand krallte sich um meinen Oberarm. Ich wollte nur weg, wollte –
    Das Lächeln verschwand von einem Herzschlag
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