Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition)
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
zeigt nur das, was anderswo wirklich existiert.« Manchmal konnte sie furchtbar belehrend sein. »Darum heißt es ja Luftspiegelung.«
    Darauf fiel mir nichts ein. Sie hatte die Gabe, einem mit einem einzigen Satz den Wind aus den Segeln zu nehmen.
    Für das Anderswo, das sie meinte, gab es längst einen Namen. Nachdem die großen Weltreligionen sich zu Anfang gegenseitig die Schuld an den Erscheinungen gegeben hatten, hatte schließlich jede den Ort, von dem die Geister kamen, für sich beansprucht: Himmel oder Hölle, Paradies oder Gehenna, Nirwana oder weiß Gott was. Bald jedoch hatten klügere Köpfe beschlossen, einen Begriff zu wählen, der weder religiös noch ideologisch vorbelastet war. Auf einer der zahllosen Konferenzen, die mit dem Auftauchen der Geister einhergingen, hatte eine Wissenschaftlerin einen Vorschlag gemacht: Demnach besagten die Legenden einiger Urvölker, dass die Sonne bei Nacht in Höhlen voller Eiswasser versank, um sich bis zum Morgen abzukühlen. Und da die Geister stets zur Sonne blickten, als wollten sie ihr folgen, hatten erst die Forscher, dann die Medien dem Jenseits einen neuen Namen gegeben – die Kammern des Kalten Wassers . Oder, knapper und gebräuchlicher, einfach nur die Kammern .
    Mittlerweile benutzte die halbe Welt diese Bezeichnung, und die Nationen hatten einander mit ihrer Bereitschaft verblüfft, wenigstens dieses eine Mal eine globale Einigung zu erzielen.
    Mir persönlich war es einerlei. Ob wir nach unserem Tod auf einer Wolke oder in Disneyland landeten, schien mir von hier unten aus betrachtet eine reichlich überflüssige Debatte zu sein.
    »Jedenfalls«, sagte ich zu Emma, »sind Mum und Dad nicht hier in der Wüste. Ich hab keine Ahnung, wo sie sind, aber das, was da eben gelächelt hat, das waren nicht sie. Sie würden uns niemals wehtun, das weißt du.«
    Meine Schwester verzog keine Miene. »Du hast mal gesagt, dass es sie freuen würde, wenn sie uns los wären. Das hast du zu ihnen gesagt.«
    »Das war … eine andere Situation.« Und das hier ganz sicher der falsche Augenblick, um darüber zu reden. Trotzdem geriet ich ins Stammeln. »Ich meine, sie hatten ihre Fehler. Aber das war anders gemeint.«
    »Hypothetisch?«
    »So ungefähr. Wir hauen jetzt hier ab und dann können wir –«
    Ich verstummte, als ich bemerkte, dass sie mich nicht mehr ansah. Stattdessen blickte sie auf irgendetwas hinter mir. Ich stand mit dem Rücken zur Straße und plötzlich fühlte es sich an, als legten sich Finger aus knisternder Elektrizität in meinen Nacken.
    Mit angehaltenem Atem drehte ich mich um.
    Ich hatte erwartet, dass jemand unmittelbar hinter mir stand. Aber da war nur ein einzelner Scheinwerfer auf der Straße, weit entfernt im Süden. Kaum mehr als ein glühender Stecknadelkopf in der Dunkelheit. Er kam aus derselben Richtung wie wir vor einigen Stunden. Vielleicht noch jemand, der Angehörige beim Absturz von IB259 verloren hatte. Oder nur ein Motorradfahrer auf der Durchreise.
    »Er ist gerade stehen geblieben«, sagte Emma.
    Mit dem Feldstecher suchte ich die Dunkelheit nach dem Lichtpunkt ab. Er huschte einige Male durch mein Blickfeld wie eine Sternschnuppe, ehe es mir gelang, auf ihn zu fokussieren. Trotzdem erkannte ich kaum mehr als zuvor, nicht einmal, ob es sich tatsächlich um ein Motorrad oder um einen Wagen mit nur einer Lampe handelte.
    »Warum kommt er nicht näher?«, wollte Emma wissen.
    Das fragte ich mich auch, aber sie gab sich die Antwort schon selbst: »Er weiß es.«
    Ich ließ den Feldstecher sinken. »Weiß was?«
    »Was hier geschieht. Oder geschehen ist.«
    Er – und vielleicht waren da ja auch noch weitere im Dunkeln, die ihre Beleuchtung ausgeschaltet hatten – konnte uns auf diese Distanz kaum beobachtet haben. Ganz sicher nicht die Ursache dessen, was uns von der Straße hinaus in die Wüste getrieben hatte. Und trotzdem rührte er sich nicht von der Stelle, so als wollte er erst einmal abwarten, was als Nächstes geschah.
    Ich horchte, ob er den Motor laufen ließ, aber der Wind aus der Sierra trieb alle Geräusche in die entgegengesetzte Richtung.
    Die Geister standen noch so reglos da wie zuvor. Das furchtbare Lächeln war wie festgefroren, als hätte ihnen jemand Masken übergestülpt. Hatte es mit etwas zu tun, was der Amerikaner getan hatte? Sein Körper lag noch immer regungslos am Boden. Er schien von dem Phänomen ebenso überrumpelt worden zu sein wie wir selbst.
    »Wir gehen jetzt zum Wagen und verschwinden«,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher