Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition)
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
vor die Augen. Erst war es nur eine verschwommene Masse, doch als ich geblendet die Linsen justierte, schälten sich Gestalten aus dem Licht. Sie hatten uns noch immer den Rücken zugewandt, aber durch ihre transparenten Hinterköpfe konnte ich eine Andeutung des schrecklichen Lächelns erkennen, mit dem sie wortlos nach Westen starrten.
    Mir kam der Gedanke, dass allein ihr Anblick töten könnte. Allerdings spürte ich weder erneutes Herzrasen noch aufsteigende Panik.
    »Kannst du ihn sehen?«, fragte Emma.
    »Augenblick noch.«
    Ich schwenkte vom einen Ende der Menge zum anderen. Der Asphalt war leer, nirgends eine Spur von ihm. Vielleicht dahinter oder weiter draußen in der Wüste. Aber ich glaubte nicht wirklich daran; ich hatte gesehen, wie sein Oberkörper vornübergesunken war, weil er aus eigener Kraft nicht mehr hochkam. Das war nicht nur Schwäche gewesen, nicht Kurzatmigkeit und ein wenig Schwindel. Was da über uns gekommen war, war das Vernichtungsgefühl einer Panikattacke gewesen. Unser Fluchtinstinkt hatte Emma und mich gerettet, gleich in den ersten Sekunden. Danach wäre es auch für uns zu spät gewesen.
    Meine Schwester kam neben mir langsam auf die Beine und machte einen wackeligen Schritt. Sie konnte wieder stehen, wenn auch unsicher. »Hast du jemals gehört, dass so was schon mal passiert ist?«
    »Noch nie.« Ich drehte an den Reglern des Feldstechers. »Geister lächeln nicht. Sie tun überhaupt nichts.«
    »Dachten wir.«
    »Vielleicht sollten wir ihn da rausholen«, murmelte ich. Aber dann begegneten sich unsere Blicke und wir sagten beide wie aus einem Mund: »Nie im Leben!« Emma fügte hinzu: »Das wäre sehr unklug.«
    Als ich erneut durch das Fernglas sah, entdeckte ich ihn. Ein dunkler, länglicher Fleck zwischen den Geistern. Eine Silhouette am Boden, die sich nicht mehr bewegte.
    Als ich es hinter mir rascheln hörte, fuhr ich herum. Emma war auf die Rückbank des Geländewagens geklettert und durchsuchte den Rucksack.
    »Ein Laptop«, sagte sie, legte ihn gleich wieder beiseite und zog einige Broschüren hervor. Hochglanzpapier schimmerte im schwachen Schein der Innenbeleuchtung. »Der Tempel des Liebenden Lichts« , las sie vor. »Niemals war uns das Himmelreich näher.«
    Sie steckte die Sachen zurück und beugte sich über die Rückenlehne zur Ladefläche im Heck. Ich hörte, wie sie einen langen Reißverschluss öffnete, dann weiterwühlte. »Hier ist nur eine Reisetasche mit Klamotten.«
    »Keine Papiere?«
    »Nein, gar nichts.«
    »Wahrscheinlich hat er sie bei sich.«
    Emma kehrte zurück ins Freie, in den Armen drei Wasserflaschen und eine Papiertüte mit Churros, einem scheußlichen Fettgebäck.
    Mein Blick fiel auf das Kreuz, das der Amerikaner neben seinem Wagen in den Boden gerammt hatte. Das Foto, das am Nachmittag daran gelehnt hatte, war fort. Ich stieg noch einmal ins Auto. Das Gewehr fasste ich nicht an, öffnete nur das Handschuhfach. Auch dort lagen keine Papiere, lediglich ein Flyer von Europcar.
    Beim Hinausklettern spielte ich mit dem Gedanken, das Gewehr an mich zu nehmen, aber mir fiel beim besten Willen nicht ein, was ich damit gegen Geister ausrichten sollte. Ich zeigte die Straße hinunter zu unserem Mini. »Hauen wir ab.«
    Emma rührte sich nicht von der Stelle.
    Ich ging zu ihr und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Sie war noch immer meine kleine Schwester, auch mit siebzehn. »Was immer das eben war, ich will das nicht noch mal erleben.« Mit Blick auf den Geländewagen setzte ich ein wenig halbherzig hinzu: »Wir können von unterwegs die Polizei anrufen, sobald wir wieder ein Netz haben.«
    Bei den letzten Worten sah Emma mich an, als wäre die Vorstellung, je wieder telefonieren zu können, ganz und gar abwegig. Vielleicht ahnte sie da schon, wie es gerade im Rest der Welt aussah, während ich nur unsere eigenen Probleme vor Augen hatte.
    Ich nahm ihr zwei der drei Flaschen ab und zwang mich zu einem aufmunternden Lächeln. »Na, los.« Es hatte freundlich klingen sollen, aber dann kam es doch nur heraus wie ein aufgehübschter Befehl.
    Sie schaute wieder ins Licht. »Glaubst du, sie haben das mit Absicht getan?«
    »Die Geister?«
    »Mum und Dad.«
    »Hör mal, Emma«, sagte ich sanft, »das da drüben sind nicht sie. Das da sind … ich weiß nicht, nur Lichter. Dinger eben. Es sind genauso wenig Mum und Dad wie irgendein Foto von ihnen. Das sind nur Bilder, sonst gar nichts. Wie eine Fata Morgana.«
    »Aber eine Fata Morgana
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher