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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition)
Autoren: Kai Meyer
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erkannte auch ich die ersten Umrisse. Je länger ich hinsah, desto deutlicher hoben sich die einzelnen Gestalten voneinander ab. Da war jemand, der meine Mutter hätte sein können – kleiner als viele der anderen, mit schulterlangem Haar –, aber aus diesem Winkel sahen wir alle Gesichter nur im Profil, was es noch schwieriger machte, Einzelheiten auszumachen.
    Und so traten wir ins Totenlicht, abermals Hand in Hand. Ich versuchte, die anderen Geister auszublenden; es half, dass sie alle starr nach Westen schauten und ich sie nicht direkt ansehen musste. Die Helligkeit brannte wie Säure in meinen Augen.
    Es gab keine fremden Gerüche, kein Kribbeln auf der Haut. Die Erscheinungen hätten ebenso gut Hologramme sein können. Ich stellte mir einen Gott als Filmvorführer vor, der mit seinem Projektor in einer Kabine hoch über dem Publikum saß und Gesichter auf die irdische Leinwand warf. Was genau machte die Geister eigentlich real? Die Tatsache, dass wir sie mit unseren Augen sehen, sie aber mit keinem anderen unserer Sinne wahrnehmen konnten, war ein ziemlich dürftiger Beweis für ihre Existenz. Vielleicht waren wir alle nur auf einem üblen Trip, Opfer einer kosmischen Strahlung, die uns etwas vorgaukelte, das nicht wirklicher war als die Figuren im Kino. Womöglich waren unsere Eltern ebenso wenig hier wie Tom Cruise im Cineworld daheim in Cardiff.
    »Rain.« Der Druck von Emmas Hand wurde fester.
    Im Näherkommen war der Amerikaner jetzt deutlicher zu erkennen. Er kniete auf dem Asphalt zu Füßen eines Geistes, den ich nur von hinten sehen konnte. Das Buch – die Bibel? – lag aufgeschlagen vor ihm auf dem Boden und er hatte den Kopf so weit vorgebeugt, dass seine Stirn das Papier berührte. Dabei flüsterte er etwas.
    Auf ihre spezielle Emma-Art sah meine Schwester erst ihn an, dann mich. »Was soll das ändern?«
    »Ich glaube nicht, dass er was ändern will.« Das hoffte ich jedenfalls, sonst wäre aus dem Fremden mit Gewehr auf einen Schlag ein Irrer mit Gewehr geworden. »Er geht eben nur auf seine Art damit um.«
    Emma hob erst eine Augenbraue, dann zuckte sie die Schultern und ging weiter.
    Während der letzten paar Schritte wurde mir klar, dass die Frau tatsächlich meine Mutter war. Mein Vater stand neben ihr. Beide sahen weiterhin in die Richtung, in der vor Stunden die Sonne untergegangen war. Erst in der Morgendämmerung würden sie sich langsam umdrehen und mit allen anderen Geistern darauf warten, dass sich das erste Morgenrot zeigte.
    Sie sahen nicht aus wie Menschen, die bei einer Explosion ums Leben gekommen waren. Tatsächlich wirkten sie nicht mal wie Tote. Eher wie Schlafwandler, die sich hierher verirrt hatten.
    Meine Mutter, über einen Kopf kleiner als mein Vater, hatte dieselbe Stupsnase wie Emma und ich. Überhaupt waren sie und ich einander nicht unähnlich. Sicher, ich war größer und schmaler als sie und hatte feuerrote Dreadlocks. Aber da war noch mehr als die identischen Nasen: Unsere Münder und Augen glichen einander wie die von Zwillingen. Selbst mein Kinn sah aus wie ihres.
    Von meinem Vater hatte ich den Körperbau geerbt, schlank und schlaksig. Mir war das ganz recht, ansonsten wären unsere Großeltern wahrscheinlich auf die Idee gekommen, mich die BHs meiner toten Mutter auftragen zu lassen. Sie hatten Emma einige Hemden unseres Vaters als Sleepshirts aufdrängen wollen, nicht als Erinnerung an ihn, sondern um Geld zu sparen. Ich hatte sie im Garten mit ein paar anderen Sachen auf einen Haufen geworfen, Grillanzünder drübergekippt und das ganze Zeug in Brand gesteckt. Emma hatte neben mir gestanden und gesagt, dass der Rauch nach ihnen roch, nach Mum und Dad, und obwohl ich das bestritten hatte, war es doch die Wahrheit gewesen. Der Geruch hatte mich noch wochenlang verfolgt.
    Mein Vater trug das Haar so lang wie meine Mutter und war glatt rasiert. Zu Beginn ihrer Missionen als Entwicklungshelfer hatten beide stets großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres gelegt; sie hatten gewusst, dass die kommenden Wochen haarige, verdreckte Wilde aus ihnen machen würden. Zumal sie sich nie die leichten Aufgaben ausgesucht hatten. Immer hatten es die schlimmsten Krisengebiete, die heftigsten Hungersnöte, die furchtbarsten Dürren sein müssen. Gern gesehen waren auch marodierende Kindersoldaten, größenwahnsinnige Diktatoren und Foltercamps. Mum und Dad waren miserable Eltern gewesen, aber ganz sicher keine Feiglinge.
    »Fühlt sich seltsam an«, sagte Emma leise, »sie
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