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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition)
Autoren: Kai Meyer
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mit den Geistern der beiden etwas in ihr auslösen, eine Art Hebel umlegen. Einen, der dafür sorgte, dass sie wieder lächeln konnte.
    Ohne mir dessen bewusst zu sein, hatte ich meine Hände um das Lenkrad geschlossen. Jetzt rutschten sie auf meinem Schweiß daran hinunter. Mein Körper war angespannt, beide Waden verkrampften sich. Intensive Gedanken an Afrika: eine Vier auf der Skala, mit Tendenz zur Fünf.
    Da spürte ich Emmas Berührung. Sanft löste sie erst meine linke Hand vom Steuer, dann die rechte. Mit einem Papiertaschentuch tupfte sie mir die Schweißperlen von der Stirn. Sie sagte nicht: »Alles wird gut.« Sie schwieg gemeinsam mit mir und wartete geduldig darauf, dass mein Zustand sich besserte.    
    Der Countdown bis zum Erscheinen der Geister war genau die Zeit, die ich brauchte, um mich zu beruhigen. Als mein Blick wieder klar wurde, entdeckte ich ein Schimmern in der Dunkelheit nördlich von uns. Die Innenbeleuchtung des Geländewagens, als der Amerikaner die Tür öffnete und ausstieg.
    »Zwei Minuten«, sagte Emma.
    Ich riss mich zusammen und spürte, wie es mir langsam besser ging. Es fühlte sich an wie heißes Wasser, das von meiner Haut verdunstete.
    Emma und ich blickten durch die Windschutzscheibe hinaus auf die Straße. Die letzten Sekunden zählten wir laut mit, von dreißig zurück auf null.
    Dann waren sie da, von einem Augenblick zum nächsten.
    Nichts hatte ihr Kommen angekündigt. In einem weiten Radius wurde die Wüste abrupt in Helligkeit getaucht. Buschwerk warf verästelte Schlagschatten über den Sand. Außerhalb des Totenlichts reflektierten Tieraugen den grellweißen Schein.
    Die Geister standen in einem engen Pulk beieinander. Wahrscheinlich hatte die Explosion alle vierundneunzig innerhalb weniger Sekunden getötet. Kein einziger Geist war weiter als wenige Meter entfernt von den übrigen erschienen. Sie waren gemeinsam gestorben, ausgelöscht von einem einzigen Faustschlag des Schicksals.
    Unsere Eltern waren irgendwo dazwischen, wahrscheinlich nebeneinander, so wie sie beim Aufschlag gesessen hatten. Sie würden dastehen wie alle anderen, den ausdruckslosen Blick nach Westen gewandt, wo die Sonne schon vor Stunden hinter den Gipfeln der Sierra versunken war.
    Etwas bewegte sich und erst beim zweiten Hinsehen erkannte ich den Amerikaner, der langsam auf die Mauer aus Geistern zuging. Noch ein paar Schritte, dann würde er die ersten erreichen. Das Gewehr musste er im Wagen zurückgelassen haben. Totenlicht tauchte seine Züge in weißen Glanz. Von wem wollte er sich verabschieden? Gab es etwas, das er loswerden musste, Gedanken, die ihm seit drei Jahren keine Ruhe ließen?
    Seit dem Absturz hatte ich darüber nachgedacht, was ich meinen Eltern noch hätte sagen wollen. Dass unser Drama ein Ende haben musste, all die Vorwürfe, die sich aufgestaut und in den Nächten an mir gefressen hatten. Doch irgendwann hatte ich akzeptiert, dass es egal war, ob ich all das zu zwei Gräbern in Wales oder zu ihren Geistern hier in Spanien sagte. Was immer diese Erscheinungen waren – Projektionen des Unbewussten, Phantasmen aus unseren Albträumen oder gar zurückgekehrte Seelen –, die Sache mit meinen Eltern war gegessen. Auf die Minute genau vor drei Jahren war jede Chance auf eine Aussprache mit ihnen in einer Feuerwolke aus Kerosin und brennendem Kunststoff verpufft.
    »Kommst du?«
    Emma war ausgestiegen. Dass sie es eiliger hatte als ich, erneuerte meine Hoffnung, dies könnte etwas sein, das sie wirklich wollte. Ich war wegen ihr hier. Für sie.
    Tief im Inneren ahnte ich wohl, dass sie es umgekehrt ganz ähnlich sah. Dass sie wusste, was drei Jahre lang an mir genagt hatte. Und dass sie glaubte, mir einen Gefallen zu tun, als sie mich begleitete.
    Nun jedenfalls waren wir hier. Und sie waren es ebenfalls.
    Ich trat zu Emma ins Freie. Vor dem Kühler blieben wir stehen, wechselten einen Blick und setzten uns wieder in Bewegung. Ihre Hand suchte meine, unsere Finger griffen fest ineinander. So gingen wir langsam auf die Geister zu, in kalkiges Licht getaucht wie die Auserwählten am Ende von Unheimliche Begegnung der Dritten Art .
    Der Nachtwind trieb ein Stück Buschwerk über die Fahrbahn in die Geistermenge. Gegen besseres Wissen wartete ich darauf, dass etwas geschah, die Äste vielleicht Feuer fingen und in spukhaften blauen Flammen verkohlten. Aber das Knäuel aus Zweigen wehte durch die äußeren Gestalten und kam auf der anderen Seite unversehrt wieder zum
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