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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition)
Autoren: Kai Meyer
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hier so stehen zu sehen. Hast du das Gefühl, dass wirklich sie das sind?«
    »Ja und nein.«
    All die Worte, die ich mir nächtelang zurechtgelegt hatte, waren wie ausradiert. Falls das hier meine Eltern waren, ihre Seelen oder was sonst von einem Menschen übrig bleibt, dann spielte es keine Rolle mehr, ob sie wussten, was ich all die Jahre über empfunden hatte. Dann war ihnen vielleicht längst klar, dass es für mich keinen Unterschied machte, ob sie lebten oder tot waren. Sie waren einfach nicht da, so wie früher, als sie monatelang nach Afrika verschwunden waren und uns Kinder zu unseren Großeltern abgeschoben hatten.
    »Auf Wiedersehen, Mum«, sagte Emma. »Auf Wiedersehen, Dad.« Dann wandte sie sich zu mir um. »Wenn du noch bei ihnen bleiben willst – ich warte beim Auto.«
    Mit einem Mal überkam mich ein Anflug solcher Zuneigung, so eine glühend heiße Liebe zu ihr, dass ich gar nicht anders konnte, als sie fest an mich zu ziehen. Es dauerte ein paar Sekunden, dann schlossen sich auch ihre Arme um mich, und so standen wir da, hielten uns fest und wussten wohl beide, dass wir niemanden brauchten außer einander.
    Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass der Amerikaner langsam den Oberkörper hob. Bei all dem Licht musste ich meine tränenden Augen ein wenig zusammenkneifen, um ihn sehen zu können. Trotzdem konnte ich nur seine Silhouette erkennen. Schaute er zu uns herüber?
    Dann blieb mein Blick wie von selbst am Gesicht eines Geistes haften, der auf gerader Linie zwischen uns stand.
    »Rain?«
    Emmas Stimme war nur ein Flüstern, und doch kam es mir vor wie ein Alarm, der in meinen Ohren losschrillte. Sie hatte ganz leise gesprochen, kaum hörbar, und dann ließ sie mich los. Auch ich zog meine Arme zurück, wollte sie ansehen, konnte aber meinen Blick nicht von den Augen des Geistes lösen, von seinen Lippen.
    »Rain«, sagte Emma noch einmal.
    Mein Herzschlag startete durch und gab Vollgas. Von einem Moment zum nächsten pochte mein Puls wie Snaredrums hinter meinen Schläfen. Schlimmer noch war der Druck in meiner Brust; er tat weh und nahm mir den Atem.
    Mit einer zähen Bewegung riss ich meinen Blick von dem Mann los und suchte die Gesichter meiner Eltern. Auch Emma starrte die beiden an.
    Überall um uns tat sich etwas, aber die Veränderung ging fast in all dem Gleißen und Glühen unter. Ganz deutlich erkannte ich es nur bei den allernächsten Erscheinungen. Bei dem Mann gerade eben – und nun auch bei Mum und Dad.
    Es war keine optische Täuschung des Totenlichts. Erst recht keine Einbildung.
    Mum und Dad lächelten .
    Alle Geister lächelten.
    Und es war das bösartigste Lächeln, das ich in meinem ganzen Leben gesehen hatte.

7.
    Ich packte Emma am Unterarm und rannte los.
    Aus dem Augenwinkel sah ich die Silhouette des Amerikaners. Er versuchte sich aufzurichten, sackte aber gleich wieder mit dem Oberkörper nach vorn.
    Ich stürmte mit Emma in die entgegengesetzte Richtung, durch die grinsende Menge der Geister, und obgleich es keinen körperlichen Widerstand gab, kam es mir vor, als gerinne das Licht zu etwas Festem, das sich mit jedem Schritt weiter verdichtete. Sekundenlang hatte ich das Gefühl, als liefen wir in die falsche Richtung, nicht hinaus in die Dunkelheit, sondern tiefer ins Herz des Geisterpulks, orientierungslos wie zwei verstörte Tiere im Lichtkegel eines Lasters.
    In meinem Kopf war nichts als Panik. Emma hatte eine Hand an ihre Brust gelegt, als wollte sie die Finger zwischen ihre Rippen stoßen, um sich das hämmernde Herz herauszureißen. In mir keimte der fatale Gedanke, dass es womöglich besser wäre, einfach stehen zu bleiben und jede Anstrengung zu vermeiden. Vielleicht war das die einzige Möglichkeit, meinen stampfenden Puls zu verlangsamen und auch Emma zu beruhigen.
    Aber dann riss vor uns die Wand der Geister auf wie ein brennender Vorhang und dahinter lag die klare, dunkle Nacht der Desierto de Tabernas.
    »Komm, weiter!«, brüllte ich Emma an.
    Ein heiserer Schrei folgte uns in die Finsternis, der bald zu einem Röcheln wurde und unter unseren Schritten und Atemstößen verklang. Ich hielt Emmas Hand und rannte, bemerkte, dass sie langsamer wurde, ins Stolpern geriet, zerrte sie aber trotzdem weiter. Wir verließen den Asphalt und liefen auf knirschendem Sand hinaus in die Wüste. Vor uns tauchte vertrocknetes Buschwerk auf, ich brach mitten hindurch, riss Emma mit mir und hastete weiter, hinaus aus dem Lichtkreis der Geister, fort von ihrem
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