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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition)
Autoren: Kai Meyer
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zum nächsten.
    Die Gesichter der Geister waren wieder so emotionslos wie zuvor. Lethargisch wie Schlafwandler standen sie mit hängenden Armen da und blickten zum westlichen Horizont.
    In der Ferne heulte ein Motor auf und das Fahrzeug raste mit hoher Geschwindigkeit heran.

8.
    Wir würden es nie und nimmer bis zum Mini schaffen. Dazu hätten wir nach Süden laufen müssen, dem Motorenlärm entgegen.
    »Zurück!« Ich deutete auf den Geländewagen. Falls es gefährlich wurde, konnten wir uns darin einschließen. Und da war immer noch das Gewehr.
    Ich blickte mich um und sah den Scheinwerfer näher kommen. Das Geräusch ließ keinen Zweifel daran, dass es sich tatsächlich um ein Motorrad handelte, auch wenn in der Dunkelheit noch immer keine Einzelheiten zu erkennen waren.
    Vielleicht wäre ich ohne Emma stehen geblieben und hätte abgewartet. Von dem Neuankömmling musste nicht zwangsläufig eine Gefahr ausgehen. Aber er hatte gewusst, dass etwas vor sich ging. Und er hatte abgewartet, bis es vorüber war.
    Kurz bevor wir den Geländewagen erreichten, ließ ich Emma los und sah mich noch einmal um. Das Motorrad blieb auf der Straße, hielt nicht auf uns zu, sondern näherte sich dem Pulk der Geister. Der Fahrer hätte ausweichen können, der Boden zu beiden Seiten des Asphalts war eben und gut befahrbar. Aber er raste mit hohem Tempo geradewegs in die Menge hinein, obwohl das Totenlicht ihn blenden musste. Das Motorrad jagte durch die vorderen Geister, vollzog mit quietschenden Reifen eine Vollbremsung neben dem Leichnam und stellte sich dabei quer. Der Fahrer – dunkles Leder und kein Helm war alles, was ich erkennen konnte – beugte sich rasch zur Seite, packte den Toten am Kragen und zerrte ihn zu sich auf die Maschine, quer über seine Oberschenkel. Dann gab er mit aufheulendem Motor Gas und jagte von der Fahrbahn hinaus in die Wüste. Genau in unsere Richtung.
    Das Motorrad schlingerte, weil der Fahrer den schlaffen Körper kaum halten und gleichzeitig lenken konnte, aber irgendwie gelang es ihm, das Gleichgewicht zu halten.
    »Emma!«, brüllte ich. »Ins Auto!«
    Als ich mich umsah, kletterte sie gerade hinein. Aber dort blieb sie nicht, sondern kehrte mit dem Gewehr zurück ins Freie und brachte es in Anschlag.
    »Pass auf!«, schrie sie.
    Das Motorrad preschte durch die Wüste auf mich zu. Für einen Moment war ich überzeugt, dass es mich rammen würde. Dann raste der Fahrer mit wehendem Haar an mir vorüber, verlor auf einer Bodenwelle fast den Leichnam und ließ ihn das letzte Stück achtlos mit den Füßen über den Boden schleifen. Dann endlich bremste er neben dem Geländewagen – und vor Emmas Gewehrmündung.
    Sie hielt die Waffe starr auf ihn gerichtet und gab eine erstaunlich gute Imitation von jemandem ab, der so ein Ding tatsächlich benutzen konnte.
    Den Motorradfahrer beeindruckte sie trotzdem nicht. Er ließ den Toten zu Boden gleiten, gab ihm einen Stoß, als sich seine Hand an einem verchromten Rohr verhedderte, und trat den Ständer nach unten. Mit einem Knirschen neigte sich die Maschine zur Seite, fand aber genug Halt auf dem felsigen Untergrund. Der Fahrer schwang sich mit einer geschmeidigen Bewegung aus dem Sattel, ignorierte Emma und trat an ihr vorbei zum Wagen. Er blickte erst durch die offene Beifahrertür, dann auf die Rückbank. Sekunden später hielt er den Laptop des Amerikaners in der Hand.
    Allmählich senkte sich die Staubwolke, die er mit seinem Bremsmanöver aufgewirbelt hatte. Er hatte schulterlanges dunkles Haar und trug eine dieser Bikerjacken mit unzähligen Taschen, wie man sie oft in alten Filmen sieht, retro genug, um wieder schick zu sein. Dazu Jeans und abgewetzte Lederstiefel. Ich hätte mein Leben darauf verwettet, dass er tätowierte Oberarme hatte.
    Er beachtete auch mich nicht, ging mit dem Laptop zurück zur Maschine und schob ihn in eine seiner Satteltaschen. Erst jetzt erkannte ich, dass das Motorrad viel älter sein musste als er. Es war pechschwarz, abgesehen von den Chromteilen, und sah aus, als hätte man es direkt von der Route 66 eingeflogen, um hier in der Wüste einen Film über Bikergangs der Fünfzigerjahre zu drehen. Vincent stand als Herstellerlogo auf dem Tank. Am Schutzblech des Vorderrades war eine Plakette mit der Aufschrift Black Shadow angebracht.
    Das Gesicht des Fremden war so staubig wie der Rest, aber unter dem feinen Puder des Wüstensands sah er jünger aus, als ich erwartet hatte. Anfang zwanzig.
    »Das gehört dir
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