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Perfect Copy - Die zweite Schöfung

Perfect Copy - Die zweite Schöfung

Titel: Perfect Copy - Die zweite Schöfung
Autoren: Andreas Eschbach
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dass sein Vater und seine Mutter und seine Cellolehrer ihn für so begabt hielten und er selber nichts davon merkte? Alles, was er fertig brachte, war, die Töne in der richtigen Höhe und der richtigen Reihenfolge zu spielen. Aber das genügte nicht, bei weitem nicht!
    Er blickte die Noten auf dem Ständer an und hatte das Gefühl, dass der Abgrund zwischen ihm und jemandem wie Hiruyoki Matsumoto in Wahrheit noch viel größer und tiefer war, als er ihm gestern Abend im Konzert erschienen war.
    Seine Mutter war in ihrem Atelier, das neben der Küche nach hinten in den Garten hinausging, und hatte wie immer die Tür zur Eingangshalle offen stehen. In die Stille hinein vernahm er ihre Stimme von unten:
    »Wolfgang? Ich höre dich nicht üben!«
    Gleich darauf hörte sie ihn wieder üben. Diesmal die Etüden, die ihm sein Cellolehrer aufgegeben hatte. Gleichmäßig, getragen und mit kleinen Misstönen und Aussetzern ab und zu erfüllte der Klang seines Cellos das stille Haus der Wedebergs.
    Was seine Mutter nicht hörte, war, dass dieser Klang vom Tonband kam. Wolfgang hatte einen Mitschnitt seiner letzten Übungsstunde in den DAT-Recorder gelegt und hockte nun, die angezogenen Beine umarmend, auf dem Bett und starrte grübelnd vor sich hin.
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    Auch der mit drei Stunden Nachmittagsunterricht endlos lange Dienstag ging vorüber, immerhin mit einer völlig »klonfreien« Französischstunde, und auch in Physik fiel das Wort mit dem K kein einziges Mal. Dafür gewöhnte sich ihr Sportlehrer gerade an, sie allesamt als »Klone« zu titulieren: »So, ihr Klone, heute fangen wir mit einer Runde Bauchmuskeltraining an!« Muskeln waren die besondere Leidenschaft von Oberstudienrat Becker, vor allem seine eigenen, die er in überaus beeindruckendem Zustand hielt. Sein zweites Hobby war das Sammeln von Schimpfwörtern und Kraftausdrücken, was einem nicht entging, wenn er mal wieder wilde Geschichten von seiner Bundeswehrzeit und seinen Einsätzen im Kosovo erzählte.
     
    Wie immer völlig gerädert lief Wolfgang abends um halb sechs bei seinem Cellolehrer ein. Herr Jegelin wohnte allein mit zwei Celli, einem Kontrabass und einem Klavier im ersten Stock eines Hauses direkt am Bach. Es war eine schön eingerichtete, große Wohnung, an deren Wänden gerahmte alte Notenhandschriften hingen und Porträts der großen Cellisten des zwanzigsten Jahrhunderts: Mstislaw Rostropowitsch, Paul Tortelier, Jacqueline du Pré, und natürlich Pablo Casals. Vom Wohnzimmer aus, das gleichzeitig Unterrichtsraum war, hatte man einen schönen Blick auf die träge vorbeiplätschernde Schirn und auf die Trauerweiden auf dem Grundstück gegenüber, deren Zweige bis aufs Wasser hinabhingen.
    Entsetzlich war nur immer der Weg mit dem großen Cellokoffer das enge Treppenhaus hinauf, das mit wurmstichigen Spinnrädern, modrigen Butterfässern und anderem Gerümpel voll stand, das Herr Jegelins Vermieter sammelte. An den Wänden hingen zudem zahllose aufgeklebte Puzzles aus bis zu zehntausend Teilen. Wolfgang plagte die Vorstellung, dass er eines Tages eines davon mit seinem Koffer anstoßen und es auf dem Boden in alle seine Teile zerbrechen könnte und der Vermieter, ein grobschlächtiger Mann mit einem steifen Bein, ihn dazu zwingen würde, sie wieder zusammenzusetzen.
    »Sehr schön«, sagte Herr Jegelin an diesem Dienstagabend und rieb sich die schlanken Finger, wie er es zu tun pflegte, ehe er selber nach Cello und Bogen griff.
    »Ich bin wirklich überrascht. So motiviert wie heute habe ich dich schon lange nicht mehr erlebt.«
    Wolfgang nickte stumm. Er hatte gestern Abend schließlich doch noch geübt, hatte das Präludium beiseite gelegt und sich mit fast wütender Energie auf die Etüden gestürzt.
    »Gut. Gehen wir zum nächsten Stück. Hier musst du besonders auf diese chromatische Passage –«
    »Herr Jegelin?«, unterbrach Wolfgang leise. »Kann ich Sie mal was fragen?«
    Der asketisch wirkende Cellolehrer blinzelte überrascht. »Aber sicher.«
    »Wie gut bin ich?«
    »Wie gut? Hmm. Das habe ich dir doch schon oft gesagt. Du bist mit Sicherheit einer meiner begabtesten Schüler.«
    »Habe ich das Zeug zum Solisten? So wie Hiruyoki Matsumoto?«
    »Oh«, machte Herr Jegelin, nickte nachdenklich und wandte den Blick ab. »Das ist schwer vorherzusagen. Nein, da wage ich keine Prognose.«
    »Aber Sie müssen doch wissen, wie viel Talent ich habe«, drängte Wolfgang. Er hatte nicht vorgehabt, das zu sagen, aber irgendwie brach es aus ihm
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