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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn
Autoren: Boris Akunin
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seiner Visage, dass es sich um einen Schmied handelte. »Wie weit muss man schneiden? Einen Daumen breit? Oder einen halben?«
    »Das, Jesekija, kann ich dir auch nicht sagen, darüber bin ich selbst im Ungewissen. In Moskau wurde mir zugetragen, ein Schuhmacher habe sich eigenhändig mit der Schere einen zu großen Zipfel abgeschnitten und soll fast hopsgegangen sein. Ich, zum Beispiel, werde vorerst noch Abstand davon nehmen, denke ich. Sind wir erst mal im Gelobten Land angekommen, dann werden wir schon weitersehen. Manuila jedenfalls, sagt man, hat die Beschneidung nicht vorgeschrieben. Er hat den ›Findelkindern‹ seinen Segen dafür nicht erteilt, glaube ich.«
    »Das stimmt nicht«, sagte der Schmied und seufzte. »Man muss beschnitten sein, Jehuda, unbedingt. Ein richtiger Jude ist immer beschnitten. Wie soll man denn sonst im Gelobten Land in die Banja gehen, da müsste man sich ja vor allen schämen. Man wird uns auslachen.«
    »Da hast du allerdings Recht, Jesekija«, stimmte Jehuda zu. »Auch wenn es einem nicht geheuer ist, machen muss man es wohl.«
    Da erhob das Weib seine Stimme. Die Stimme klang dumpf und näselnd, was auch kein Wunder war, denn in dem Gesicht von diesem Weib war von einer Nase nicht mehr viel zu erkennen, sie war vollkommen eingedrückt.
    »Ach du meine Güte – ›nicht geheuer‹. Und so was will ein Jude sein. Schade, dass ich kein Kerl bin, ich hätte keine Angst.«
    Was kann man diesen Jesusmördern bloß stibitzen, grübelte Pfannkuchen. Vielleicht den Sack von dem Schmied?
    Und schon schob er sich vorsichtig heran. Aber in diesem Moment trat ein weiterer Mann zu den Sitzenden. Er trug genau den gleichen Kittel wie sie, nur war der blaue Streifen nicht aufgemalt, sondern mit weißem Zwirn angenäht.
    Dieser Mensch erschien Pfannkuchen noch widerwärtiger als seine Genossen: Die Augen schmale Schlitze, die ganze schmierige Visage platt wie ein Brett, fettige Haare bis auf die Schultern und unter dem Kinn ein räudiges Bärtchen. Ein typischer Schankwirt.
    Die drei fuhren erschrocken in die Höhe.
    »Was denn, Solomoscha, hast du ihn etwa allein gelassen?«
    Der Altere, der Jehuda hieß, schaute sich misstrauisch um (Pfannkuchen bemerkte er natürlich nicht, versteht sich) und sagte leise:
    »Es war doch vereinbart, dass immer zwei beim Schatz bleiben!«
    Pfannkuchen glaubte zuerst, er habe sich verhört. Aber der plattgesichtige Solomoscha winkte ab:
    »Der läuft schon nicht weg, der Schatz. Er schläft doch darauf; die Schatulle liegt unter seinem Kopfkissen, und er hat die Arme drumgelegt. Es ist so schwül da im Zimmer.«
    Damit setzte er sich hin, zog die Stiefel aus und fing an, seine Fußlappen zu wenden.
    Pfannkuchen rieb sich die Augen – war das ein Traum?
    Schatz! Schatulle!
    Famose Saison! Famose »Stör«!
    Eure goldene Brille könnt ihr meinetwegen behalten, und den anderen Kram erst recht! Kinkerlitzchen! Unter dem Kopfkissen des Propheten lag eine Schatulle mit einem ganzen Schatz und wartete nur auf Pfannkuchen! Da ist er ja, der leckere Markknochen!
    Also er schläft, euer Prophet, habt ihr gesagt?
    Und husch!, war der Rasin hinter seiner Kiste verschwunden.
    Trapp, trapp flog Pfannkuchen die Treppen hinunter zum Zwischendeck. Dort war nichts und niemand zu sehen, nur fahle gelbe Flecken schimmerten durch das Weiß – die Kabinenfenster.
    Pfannkuchen fragte die gelben Flecken: »Na los, erzählt mal, in welcher von euch ist der Schatz unterwegs?«
    An den Fenstern waren zwar Vorhänge angebracht, aber sie ließen die obere Hälfte frei. Wenn man auf einen Stuhl stieg (und Stühle gab es hier genug, wie eigens für Pfannkuchen bereitgestellt), konnte man über sie hinweg in die Kabine schauen.
    Im ersten Fenster bot sich Pfannkuchen ein höchst rührendes Bild: Eine Familie saß traulich beim Tee.
    Der Papascha, ein gesetzter Herr mit dichtem Rauschebart, schlürfte seinen Tee aus einem großen Glas. Ihm gegenüber, auf einem kleinen Kanapee, saß seine Gattin und strickte. Sie wirkte ein wenig maskulin, aber ihr Gesicht unter der gehäkelten Haube war voller Milde und Güte. Zu beiden Seiten des Papas, an seine breiten Schultern geschmiegt, saßen die Kinderchen: der Sohn, ein Gymnasiast, und die Tochter, etwa im gleichen Alter. Zwillinge waren sie jedoch nicht, denn der Junge war ganz dunkelhaarig, das Mädchen goldblond.
    Das entzückende Töchterchen sang. Man konnte zwar durch das Fenster hindurch nichts hören, weil sie so leise sang, aber man
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