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Peehs Liebe

Peehs Liebe

Titel: Peehs Liebe
Autoren: Norbert Scheuer
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gefrühstückt hatte, half ich dem Bauern, die Planen zu lösen. Wir legten vor den Hänger Paletten, die uns als Treppe dienten, und stellten einen kleinen Tisch samt Registrierkasse neben die Säcke auf dem Anhänger. Ich schulterte die Säcke und trug sie zum Kofferraum der Kunden. In der Mittagszeit machten wir Pause, saßen vor der Cafeteria und tranken Kaffee. Danach ging es weiter, bis am Abend der erste Anhänger leer war. Am nächsten Tag hatten wir alle Kartoffeln verkauft, und mein Rücken schmerzte. Evros gab mir einige seiner starken Schmerztabletten, die mich benommen machten, aber meine Schmerzen tatsächlich linderten.
    Insgesamt war es ein schöner Spätsommer. Ich fuhr oft mit Karl Höger im Lastwagen umher. Höger erzählte von den Pyramiden und von Afrika, von großen Städten wie New York, Tokio und irgendwelchen Nestern am Rande der Welt, noch kleiner und abgelegener als Kall. Wir kamen vorbei an Dottel, Densborn, sahen die Maare und die Wasserfälle bei Nohn sowie die Kalksteinbrüche,in denen Uhus brüteten. Höger berichtete von Pisten durch die Wüste, auf denen er mit einem Lastwagen, dessen Räder doppelt so groß wie ein Mensch waren, Rohre für Ölpipelines transportierte. Ich hörte zu und schloss die Augen. Ich konnte alles genau vor mir sehen. Wir fuhren am Mississippi, dann am Gelben Fluss Jangtsekiang entlang, wo es weiße Delfine geben soll, sahen auf Felsspitzen gelegene, einsame Klöster mit buddhistischen Mönchen, die ihr Leben lang schweigend meditierten, irgendwann überallhin schweben konnten, zuletzt aber doch an dem Fleck blieben, an dem sie gerade hockten. Ich wusste nicht, ob Höger tatsächlich an all den wunderbaren Orten gewesen war. Wenn ich ihn während der Fahrt ansah, blickte er konzentriert auf die Straße, wo welke Blätter aufwirbelten. Seine enthusiastischen Reden unterbrach er nur, um nach der Wasserflasche neben dem Sitz zu greifen und einen kräftigen Schluck zu nehmen. Sein Kehlkopf hüpfte dabei, seine Lippen waren feucht und glänzten. Er reichte mir die Flasche, und ich trank ebenfalls. Dann klopfte er freudig mit der flachen Hand auf das Lenkrad, wies mich auf Südindien hin, auf kunstvolle Pagoden, denen wir uns näherten, zeigte auf hinduistische Tempel und anmutige Tänzerinnen. Wir fuhren über Highways, die sich von der Ostküste bis zur Westküste Amerikas erstreckten, transportierten Mais, Weizen und Ersatzteile für Bohrtürme. Wir waren auf Küstenstraßen unterwegs, die sich an Steilhängen entlangwanden, sahen von dort auf die schäumende Brandung eines glitzerndblauen Meeres, das sich bis zum Horizont erstreckte, wo die Sonne langsam unterging und Himmel und Meer safranfarben färbte. Ich war vom Reisen müde geworden, mir fielen keine Worte mehr ein, mir wurde schwindlig, als befände ich mich auf einem sich rasend schnell drehenden Karussell. Dennoch wollte ich weiterfahren, wollte nichts von all dem Schönen versäumen, das es in der Welt gab. Ich hoffte, Peeh endlich wieder zu begegnen, vielleicht wartete sie irgendwo auf mich.

Epilog
    Annie stand früh auf, zog sich an und ging in das Zimmer ihres Sohnes Philip. Dort blieb sie eine Weile auf seinem Bett sitzen, betrachtete ihn liebevoll, streichelte sein Gesicht und weckte ihn schließlich. Philip hatte vor einer Woche, am 3. Februar 2012, seinen achten Geburtstag gefeiert, er besuchte eine Schule in der Kreisstadt. Er war ein guter Schüler, obwohl er erst spät zu sprechen begonnen hatte. Es war noch Zeit, bis der Schulbus kommen würde. In der Dämmerung hatte es zu schneien begonnen. Philip rieb sich die Augen, sah seine Mutter kurz an und drehte sich zur Seite. Es dauerte, bis er richtig wach wurde und aufstand. Annie ging in die Küche hinunter, heizte den Ofen, verließ dann das Haus und überquerte den Hof zum Pferdestall. Bei der Stallarbeit trug sie einen grünen Overall, Stiefel, einen dicken alten Pullover und eine Baseballkappe, unter der ihr Haar steckte. Sie wohnte, seit Philip geboren worden war, auf einem Aussiedlerhof in der Nähe der Landstraße, die von Kall an Keldenich vorbei nach Zingsheim führte. Es war einer der Bauernhöfe, die man in den Sechzigerjahren zwischen Feldern und Wiesen gebaut hatte. In den Morgenstunden sah man die mächtigen Schatten der Windradflügel auf den Feldern und hörte ihr Surren,
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