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Peehs Liebe

Peehs Liebe

Titel: Peehs Liebe
Autoren: Norbert Scheuer
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Frühjahr 1938, geboren. Als sie sich begegneten, feierte er gerade seinen vierundsechzigsten Geburtstag. Rosarius hatte noch volles krauses Haar, eine spitze gerade Nase und hellblaue lebhafte Augen. Auf dem Tisch in seinem kleinen Zimmer im Altenheim standen ein Plastikkerzenständer mit auswechselbaren Geburtstagszahlen, ein Blumenstrauß von seinem Freund Karl Höger und Reste eines Zitronensandkuchens, von dem Rosarius aß, indem er mit der Zeigefingerkuppe auf die Kuchenkrümel drückte, den zittrigen Finger zum Mund führte, um dann die Krümel genussvoll abzulecken.
    Rosarius wohnte seit zwei Jahren im Seniorenstift auf der Risahöhe, seit er nicht mehr allein leben konnte. Er war, wie er erzählt hatte, in seiner Jugend und bis ins frühe Erwachsenenalter hinein klein und schmächtiggewesen, hatte damals kein Wort zu sprechen vermocht und stattdessen nur gesummt. Heute wäre er jedoch, wie Annie gleich bemerkte, ein großer stattlicher Mann gewesen, wenn er sich hätte aufrichten können, was ihm aber wegen eines Schlaganfalls nicht mehr möglich war. Der Schlaganfall hatte eine halbseitige Lähmung hervorgerufen und kleine Verletzungen in seinem Gehirn hinterlassen, weshalb Rosarius oft verwirrt war. Er schien dann nicht zu wissen, wo er sich befand, redete sehr langsam und leise, machte lange Pausen, schien nachzudenken, versuchte sich offenbar zu erinnern, wartete auf Wörter und Gedanken, die vielleicht in seinem Kopf wimmelten wie Millionen winzige blinde Tierchen, er summte dabei und murmelte, kaum hörbar, im Rollstuhl sitzend, vor sich hin.
    â€¦
    Annie half Rosarius aus dem Rollstuhl, setzte ihn auf die Bettkante, zog ihm die Hose aus, machte ihn für die Nacht fertig. Er saß mit spillerigen, vernarbten Beinen auf dem Bett, und wie eine rotbraune Nacktschnecke richtete sich sein Geschlecht langsam aus dem krausen Schamhaar auf, wurde schön und samtweich. Er murmelte währenddessen irgendetwas im Eifeler Dialekt, einem Singsang, den sie immer noch nicht verstand, obwohl sie schon einige Jahre in Kall lebte. Dann zitierte er kaum hörbar ein paar Wörter aus dem «Hyperion»,
stille, stille, sage nicht, daß das Schicksal uns trennt, wir sind’s.
Rosarius konnte ganze Passagen des «Hyperion» auswendig, der ein Teil seiner Sprache zu sein schien. Wenn er Annie ansah und in ihr Peeh zu erkennen glaubte, strahlten seine blauen Augen vor Glück, in diesem Moment hatte er etwas von einem klugen, spitzbübischen Jungen. Erinnerte sich Annie später daran, dann sah sie immer dieses glückliche Gesicht vor sich. Oft fragte sie sich, wie diese Frau wohl ausgesehen hatte, von der er immerzu erzählte, sie versuchte sich Peeh vorzustellen, wie Rosarius sie beschrieben hatte. Manchmal schien er geistig vollkommen klar zu sein, erwartete sie dann ungeduldig, um ihr von seiner Mutter Kathy, Peeh, Vincentini und einem Schatz, den der verrückte Strohwang gesucht hatte, zu erzählen. Die meiste Zeit aber memorierte er wie in Trance Straßennamen, als würde er sich im Labyrinth einer anderen Welt befinden.Rosarius hatte keine Angehörigen oder Verwandten mehr. Viele seiner Bücher, Aufzeichnungen, Habseligkeiten und wenige Fotografien aus seiner Jugend lagerten irgendwo in der Remise, wo sich auch die Besitztümer anderer Heimbewohner befanden. Dinge aus einem früheren Leben, für die kein Platz mehr in den kleinen Zimmern war.
    â€¦
    Hin und wieder kam Karl Höger von Kall zur Risahöhe hinauf, um Rosarius zu besuchen, manchmal erschien auch Edgar Lambertz, ein Enkel Strohwangs, der glaubte, Rosarius wisse etwas über den Verbleib seines verschollenen Großvaters und dessen Schatz, den dieser jahrzehntelang in der Gegend von Kall gesucht hatte. Lambertz war knöchrig, hatte fettiges, zurückgekämmtes Haar, trug einen Ohrring und ein Kinnbärtchen, an dem er dauernd herumzupfte. Annie konnte Lambertz vom ersten Moment an nicht leiden. Karl Höger hingegen fand sie sympathisch, er war ein freundlicher Mann, der sein ganzes Leben lang als Lastwagenfahrer gearbeitet hatte. Höger hatte einen der großen Steinlaster gefahren, die früher Tag und Nacht zwischen dem Zementwerk und dem Kalksteinbruch gependelt waren. Rosarius war gern mit ihm im Büssing in der Gegend herumgefahren. Höger hatte beim Fahren von Ortschaften und Kontinenten erzählt, von fernen Ländern und Städten,
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