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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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    Heute ist der Tag, an dem ich sterbe. Offenbar versuchen eine Menge Leute, das zu verhindern, doch ich bin so gut wie tot. Ich sehe das Licht, über das ich schon oft gelesen habe. Und mir ist warm. Ich will die Arme ausstrecken, weiß aber nicht, ob ich es wirklich tue. Rinnsale fließen aus meinem Haar. Ich triefe, aus meinen Schuhen tropft es. Meine Augen brennen. Ich presse die Lippen zusammen, zumindest versuche ich es.
    Schon als Kind habe ich Wasser gehasst. Stand ewig auf dem Einmeterbrett, erstarrt, die Augen geschlossen. Der Lehrer brüllte mich an, bis ich mich fallen ließ. Ich schwamm wie ein Hund, eher schlechter. Jetzt bewege ich mich. Oder alles um mich herum ist in Bewegung. Ich würde gerne meinen Körper verlassen. Ich mag meinen Körper nicht. In den Artikeln stand, man schwebe über sich. Man könne sich daliegen sehen, die eigene leblose Hülle. Und man sei nicht traurig darüber, gehen zu müssen. Ich bin nicht traurig. Ich gehe, wenn man mich lässt. Ich bin bereit.
    Einmal ließ ich mich auf den Beckengrund sinken. Da war nur Stille. Kein Lachen, keine Anfeuerungsrufe, kein Brüllen. Der Lehrer holte mich raus. Er pumpte Luft in meine Lungen, bis ich mich übergab. Elf Jahre alt war ich da, mager und bleich wie keiner in meiner Klasse. Ins Wasser musste ich danach nicht mehr. Richtig schwimmen lernte ich nie. Badewannen habe ich seither gemieden, und sogar beim Duschen befürchtete ich zu ertrinken. In einem Etui trug ich einen Trinkhalm aus Kunststoff mit mir herum. Wenn Flüssigkeit in meinen Körpermusste, wollte ich die Kontrolle darüber haben. Freiwillig überquerte ich keine Brücke. Heftiger Regen machte mir Angst.
    Oder denke ich mir das alles nur aus? Vielleicht läuft gerade dieser berühmte Film in meinem Kopf ab. Bilder, die in Sekunden ein Leben nacherzählen, egal, wie belanglos es war. Gut möglich, dass mein Hirn diese Autobiografie erfindet, verfälscht. Aufpeppt unter Zugabe von ein paar Macken. Immerhin liege ich im Sterben.
     
    Man berührt mich, hält mich zurück. Dabei will ich dorthin, wo das Licht ist. Es ist nicht mehr so hell wie zuvor. Mir wird plötzlich kalt, ich zittere. Ich will nicht zurück in die Welt. Ich bin nicht traurig, weil ich gehen muss. Ich will am Grund des Beckens liegen und nichts mehr hören. Das Wasser umgibt mich. Es beschützt mich. Wie damals.

The First Deadly Sin
1980
    Als er geboren wurde, starb seine Mutter. Es hatte sie ihre ganze Kraft gekostet, ihn sieben Monate und elf Tage in ihrem Bauch zu tragen. Ihn aus sich herauszupressen brachte sie um. Sie schloss für immer die Augen, als er seine zum ersten Mal öffnete. Wie zur Strafe dafür, dass er seine Mutter getötet hatte, schlug ihn der Arzt auf den Hintern. Er schrie und machte den ersten Atemzug, als seine Mutter den letzten tat. Während sie in die Leichenhalle gebracht wurde, legte man ihn in den Brutkasten. Er war zu klein, zu leicht. Er hatte keine Kraft, aber er hörte nicht auf zu schreien. Die Ärzte rätselten darüber, wie seine Lungen es schafften, sich mit so viel Luft zu füllen. Die Schwestern versuchten alles, um ihn zu beruhigen, zu trösten, aber nichts half.
    Er war allein. In den fünf anderen Brutkästen lagen keine Säuglinge. Sämtliche Geburten der letzten drei Wochen waren normal verlaufen, bis auf seine. Er spürte, dass etwas fehlte, dass er nicht in diesem Glasbehälter sein sollte. Deshalb schrie er. Und weil ihm die Welt zu hell war, zu weiß. Das Licht drang durch seine geschlossenen Lider, die dünn und faltig waren. Manchmal schien etwas in ihm nachzugeben, und er wurde ruhig. Dann verschwand das Licht. Seine Fäustchen öffneten sich, und im unruhigen Schlaf zitterten seine Finger.
     
    Schwester Lorraine Sadler stickte die Namen der Kinder, die das Licht der Welt im Saint Francis Hospital in Philadelphia, Pennsylvania, erblickten, auf Kissenbezüge aus weißem Baumwollstoff. Sie benutztedabei Rosa für die Mädchen und Hellblau für die Jungen, weil es Tradition war. Die Eltern durften die Bezüge mit nach Hause nehmen, als Erinnerung. Auch das war Tradition.
    Obwohl Schwester Lorraine neununddreißig und noch ledig war, sah sie ihrem vierzigsten Geburtstag mit Gleichmut entgegen. Sie lebte mit einem einfältigen Labrador namens Bob zusammen, hatte alle paar Jahre eine kurze Affäre mit einem Hilfspfleger und nicht vor, noch einmal zu heiraten. Als sie neunzehn war, ließ sie sich von einem doppelt so alten Rodeoreiter, der ohne sie nicht
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