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Pedro Juan Gutiérrez

Pedro Juan Gutiérrez

Titel: Pedro Juan Gutiérrez
Autoren: Schmutzige Havanna Trilogie
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Skulptur aus Gips, Zement oder unpoliertem Stein. Er war ein junger Mann, groß und muskulös, und bot als wandelnde Skulptur einen seltsamen Anblick. Er holte sich die Ziegel von einem eingestürzten Gebäude und hortete sie, um sich eine ungenehmigte Wand oder eine Mezzanin zu bauen. Das taten alle. Wahllos wurden hier und da Mauern errichtet, Wände eingerissen, Löcher geschlagen, Zimmer angefügt, errichtet aus morschen Brettern, Plastikteilen, Ziegelbruch, was gerade da war. Immer mehr Menschen wohnten in den kleinen Zimmern von drei mal vier oder vier mal vier Metern wie die Kakerlaken. Hier und da gelang es einigen, zwölf oder dreizehn Leute in einem dieser dunklen Dreckslöcher unterzubringen. Es war zwar verboten, irgendwelche Veränderungen am Gebäude vorzunehmen, aber alle taten es, ohne jede Genehmigung. Sie nutzten jeden verfügbaren Raum und ließen immer mehr Familienmitglieder vom Land nachkommen. Oder sie brachten immer mehr Kinder zur Welt und stapelten sie übereinander. Chicha machte den Mund nicht auf. Noch vor einigen Jahren wäre sie hingegangen, um zu sehen, was da passierte, und für Ordnung zu sorgen. Sie hätte sie aufgefordert, sich bei der Stadtverwaltung eine offizielle Genehmigung für ihre Bauarbeit zu besorgen, oder sie hätte die Polizei geholt und Beamte von der Baubehörde und Stadtplanung, damit alles wieder abgerissen wurde. Jetzt nicht mehr. Jetzt ließ sie alles geschehen. Ihr war alles egal. Keiner der Nachbarn auf dem Dach sah sie an oder sprach mit ihr, und auch sie sah niemanden an und sprach zu keinem ein Wort. So einfach war das.
    Sie zog ein Sputnik-Heft von 1982 hervor und las eine propagandistische Reportage über das Jahrhundertprojekt, die Bahnverbindung Baikal-Amur. Sie tauchte in die verschneiten Steppen ein, zwischen junge Helden, die eine rote Fahne neben ihrem Arbeitsplatz aufstellten.
    In der Bäckerei stellte Tita fest, dass sie nicht einmal die fünf Centavos fürs Brot hatte. Da überkam sie eine Traurigkeit, die ihr das Gefühl gab, der elendeste Mensch auf Erden zu sein, und ihr kamen die Tränen. Daraufhin schenkte ihr die Verkäuferin das Brot.
    »Du hast keine fünf Centavos? Behalte das Brot, aber hör auf zu weinen, denn das ist nicht gut und bringt Unglück.« Tita ergriff das Brot, doch als sie das hörte, fing sie erst richtig an zu weinen, schluchzte und schnüffelte. »Geh schon!«
    Die Verkäuferin warf sie hinaus. Alle im Viertel wussten, dass Tita nicht ganz richtig im Oberstübchen war. Was jedoch niemand wusste, war, dass ihr Mann sie mit ihren vier Kindern hatte sitzen lassen, als sie jung und hübsch war, denn sie legte immer Parfüm auf und wusch sich das Gesicht, badete aber nie, machte weder das Haus sauber, noch kümmerte sie sich um die Kinder. Sie war ein Ferkel mit dem Antlitz eines Schmetterlings. Ihr ganzes Geld verpulverte sie für Kaffee und Zigaretten. Als ihr klar wurde, dass sie sitzen gelassen worden war, drehte sie durch und verbrachte drei Jahre zu Tode betrübt im Bett. Die Psychiater glaubten, die einzige Weise, sie zu heilen, seien Elektroschocks.
    Jetzt, dreißig Jahre später, setzte Tita ihr breitestes Lächeln auf, zeigte ihr großes Plastikgebiss, hielt es mit der Zunge, damit es ihr nicht vom Zahnfleisch fiel, riss ihre Augen weit auf und genoss es in vollen Zügen, jedem, der sie hören wollte, ihre Geschichte zu erzählen.
    »Zweiunddreißig Elektroschocks hat man mir verabreicht, aber ich fühle mich sehr wohl, sehr, sehr wohl sogar. Und wenn man mir noch mehr geben will, nur zu, obwohl es mir sehr, sehr gut geht.« Weinend und zutiefst betrübt verließ sie die Bäckerei. Sie hatte Chicha und das Brot völlig vergessen. Langsam ging sie Schritt für Schritt, hörte auf zu weinen und schnauzte direkt aufs Pflaster, indem sie mit dem Zeigefinger ein Nasenloch zuhielt und durch das andere den Rotz ausschnaubte. Sie ging die Ánima ein paar Häuserblocks entlang zum Park von Galiano und San Rafael und setzte sich mit leerem Blick auf eine Bank. Einen Augenblick lang sah sie das alte Ten Cent an und musste an die glücklichen Tage ihrer Jugend denken, als sie dort Verkäuferin war und Parfüms und Kosmetik verkaufte. Sie war damals hübsch gewesen, groß, dunkel und mit herrlichen Brüsten. Mit ihrer Schönheit, ihrem ständigen Lächeln und ihren guten Manieren verbreitete sie Ruhe, Liebreiz und Sanftmut und verkaufte gut. Sie hatte Dutzende Verehrer, die ihr Blumen, Schokolade und Parfüm schenkten. Wie konnte
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