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Pedro Juan Gutiérrez

Pedro Juan Gutiérrez

Titel: Pedro Juan Gutiérrez
Autoren: Schmutzige Havanna Trilogie
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gebildet und klug. La Capitana... ahh... wirklich toll!«
    »Hör auf jetzt! Geh und kauf Brot, wenn du nichts anderes zu tun hast!«
    »Ja, ich gehe, denn hier oben mit diesem Taubenschlag und deinem gehässigen Gerede über Gott und alle Welt...« »Schluss jetzt! Geh und hol Brot!«
    Als Tita die Treppen hinunterging, fiel Chicha wieder der Traum ein, den sie am Vorabend während eines Nickerchens im Sessel gehabt hatte. Sie hatte ihre Schwester als Bettlerin gesehen, die auf der Straße um Kleingeld anhielt, schmutzig, barfuß und heruntergekommen, in der linken Hand eine winzige Madonna, die Rechte ausgestreckt, und nachts auf Parkbänken schlief. Sie hatte gespürt, dass es eine Vorahnung war. Schon immer hatte sie solche Visionen gehabt, konnte den Tod von allen vorhersehen. Ehe sich ihr Vater erhängte, hatte sie in immer wiederkehrenden Träumen über zehn Jahre hinweg gesehen, wie er sich mit einem dicken Strick aufknüpfte. Dasselbe war ihr mit ihrem Mann geschehen. Trotz seiner vierundsechzig Jahre, war er noch ein sehr rüstiger Mann gewesen, doch in einem Traum sah sie, wie er auf einen Avocadobaum stieg. Fröhlich, lachend und unbeschwert wie immer hatte er nach einer Frucht gegriffen, den Halt verloren, und war kopfüber zu Boden gestürzt. Als er dann wirklich stürzte, erlag er einer Gehirnerschütterung.
    Chicha achtete nicht weiter auf ihre Vorahnungen. »Zufall«, sagte sie sich. Sie hatte zu viel Hunger und Entbehrungen erlitten. Bis zum Äußersten war sie gedemütigt worden, wenn sie in den Häusern der Reichen kochte. Es konnte keinen Gott geben, der solche Dinge geschehen ließ. Als die Revolution triumphierte, nahm sie einen Job als Polizistin an. Sie bekam eine Pistole und eine Uniform und sagte sich: »Jetzt bin ich dran! Jetzt werde ich es ihnen zeigen!« Und das tat sie. Mit eiserner Hand widmete sie sich ganz der Einhaltung von Ordnung und Disziplin in ihrer Umgebung, bis sie vor acht Jahren in Rente ging. Kurz darauf starb ihr Mann. Seitdem hatte eine unkontrollierbare Angst, ihr Zimmer zu verlassen, ins Treppenhaus und auf die Straße zu gehen, Angst vor den Nachbarn und vor allem von ihr Besitz ergriffen. Sie lebte in der Überzeugung, dass man sie ermorden würde, wenn sie einen Fuß vor die Tür setzte. Nur in ihren eigenen vier Wänden fühlte sie sich geschützt. Sie hatte nicht genug Geld und Nahrungsmittel, magerte ab bis auf die Knochen und erkrankte an einer Erkältung, die sie zwang, in alle Ecken stinkenden Auswurf zu spucken. Da begriff sie, dass sie völlig allein war. Weder ihre Familie noch die Nachbarn konnten sie ertragen. Es gab nicht einmal jemanden, der ihr die tägliche Brotration bringen wollte. Man nannte sie nicht Chicha, sondern »La Capitana«, und ging ihr aus dem Weg. Und so lebte sie allein, hungrig und krank in ihrem elenden vier mal vier Meter großem Zimmer, umgeben von Schmutz, zwei verschlissenen Sesseln und einer aufgeplatzten Matratze. Nie hatte sie die Revolution zu ihrem eigenen Vorteil genutzt. Sie war durch und durch ehrlich und davon überzeugt, dass Aufrichtigkeit, Autorität, Ordnung, Disziplin, Kontrolle, Strenge die einzig korrekte Form revolutionärer Moral darstellte. Doch jetzt so ohne Geld und ohne was zu Essen war sie manchmal verzweifelt. In einer Ecke staubte eine kleine Büchersammlung mit den Werken von Mao, Lenin, Marx, Kim II Sung, Diskursen, Sputnik-Heften und alten Selecciones vor sich hin. Sie betrachtete die vergilbten Bücher, seufzte tief, griff nach einer Zeitschrift von 1957 und schlug sie irgendwo auf. Ein Interview mit Frank Lloyd Wright. »Wie lange können wir bestehen, bar jedes poetischen Prinzips? Wie lange kann eine Zivilisation ohne Seele überdauern? Die Wissenschaft kann uns nicht retten: sie hat uns an den Rand des Abgrunds geführt. Nur Kunst und Religion sind dazu imstande, sie bergen die Seele der Zivilisation.« Sie schlug die Zeitschrift wieder zu und warf sie zur Seite. »Diese rückgratlosen Amerikaner!«
    Sie setzte sich einen Moment lang in den abgewetzten Sessel neben der Tür. Ein Mann kam und ging und schleppte Ziegelsteine heran. Mit zehn Ziegeln beladen stieg er die acht Stockwerke hoch, brachte sie in sein Zimmer und ging wieder hinunter, um neue zu holen. Er trug nur eine an den Knien abgeschnittene Hose, keine Schuhe. Seine verschwitzte schwarze Haut war von einer feinen aschgrauen Staubschicht aus Kalk und Zement überzogen. Auf Chicha wirkte er wie eine zum Leben erwachte Statue, eine
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