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Partitur des Todes

Partitur des Todes

Titel: Partitur des Todes
Autoren: Jan Seghers
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nehmen, die in der Mitte des Studios aufgebaut waren. Sie selbst setzte sich auf den anderen, schlug die Beine übereinanderund schaute auf den Monitor, der vor ihnen auf dem Boden stand. Es liefen gerade die letzten Szenen des Films, den sie und ihr Team über Monsieur Hofmann gedreht hatten.
    «Noch eine Minute», rief eine Männerstimme aus der Dunkelheit des Studios. Und kurz darauf: «Ruhe, bitte! Noch dreißig Sekunden.» Mademoiselle Blanche saß auf dem Sofa ihrer kleinen Wohnung in Belleville und schaute auf den Fernseher. Sie hatte überlegt, ein paar Freundinnen für diesenAbend einzuladen, war dann aber zu dem Entschluss gekommen, sich die Sendung alleine anzuschauen. Unwillkürlich musste sie lächeln, als Georges nun direkt in die Studiokamera schaute. Und fast hätte sie die Hand gehoben, um ihm zuzuwinken. Sie fand, dass er gutaussah, und sie war stolz auf ihn. Unter all den Männern, die ihrAvancen gemacht hatten, hatte sie ausgerechnet diesen dünnen, kleinen Mann erwählt, um mit ihm ihr Leben zu verbringen. Und sie hatte es bis heute nichtbereut.
    «Gerade noch haben wir Sie aufden Straßen von Belleville gesehen», sagte Valerie, «jetzt begrüßen wir Sieals Gast in unseremStudio. Und mit Ihnen begrüßen wir unsere Zuschauer in Frankreich und in Deutschland. Wie geht es Ihnen, Monsieur Hofmann?»
    «Gut, danke. Ich bin ein bisschen nervös.»
    «Eine sehr persönliche Frage gleich zu Beginn: Sind Sie ein glücklicher Mensch?»
    «Ich bin zufrieden, ja. Man sagt, dasAlter sei nichts für Feiglinge.Aber noch bin ich gesund. Und manchmal bin ich auch glücklich.»
    «Sie tragen keinen typisch französischen Namen. Ich nehme an, Sie stammen aus dem Elsass oder aus Lothringen?»
    Mademoiselle Blanche hielt denAtem an. Sie sah, wie Georges mit sich kämpfte.
    «Nein, weder noch.»
    «Sondern?», fragte Valerie.
    Er zögerte lange, bis die Redakteurin schließlich nachhakte: «Möchten Sie, dass wir über etwas anderes reden?»
    «Nein.Es ist nur so, dass ich noch nie mit jemandem darüber gesprochen habe. Ich war Deutscher.»
    Mademoiselle Blanche atmete durch. Die Bombe war geplatzt. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
    «Sie waren Deutscher?»
    «Ja.»
    «Aber jetzt sind Sie Franzose?»
    Georges nickte.
    «Warum haben Sie Deutschland verlassen?»
    «Bis ich zwölf war, habe ich in Frankfurt gelebt.»
    «Heißt das, Sie und Ihre Eltern haben während des Krieges das Land gewechselt?»
    «Nein, ich bin ohne meine Eltern gekommen. Nachbarn haben mich nachts bis zur Grenze gebracht. Dort haben mich Freunde meines Vaters in Empfang genommen. Ich habe auf einem Bauernhof in der Picardie gelebt. Erst nach dem Krieg bin ich nach Paris gekommen.»
    «Und Ihre Eltern?»
    Georges’ Gesicht wirkte für einen Moment wie versteinert. Er senkte den Blick und schaute mit leerenAugen vor sich auf den Boden. Er schüttelte den Kopf.
    «Ich weiß es nicht.»
    «Sie wissen es nicht?»
    «Nein, ich habe nie wieder von ihnen gehört.»
    Valerie war sichtlich irritiert. Man merkte ihr an, dass das Gespräch in eine Richtung lief, mit der sie selbst nicht gerechnet hatte. Nun war sie es, die lange überlegte, bis sie die nächste Frage stellte.
    «Monsieur Hofmann, sind Sie Jude?»
    «Meine Eltern waren Juden.»
    «Also sind auch Sie Jude.»
    «Ja. Ja, ich bin Jude.»
    «Und Sie haben nie in Erfahrung bringen können, was aus Ihren Eltern geworden ist?»
    «Ich wollte es nicht wissen. Ich habe versucht, sie zu vergessen. Ich habe mehr als sechzig Jahre versucht zu vergessen, dass ich Jude bin und dass ich Eltern hatte.»
    Valerie schaute ihren Studiogast fassungslos an. «Aber Sie ahnen es. Sie ahnen, was mit Ihren Eltern geschehen ist, nicht wahr?»
    Georges nickte und schwieg.
    «Und das hat Sie nicht interessiert?»
    Nun schüttelte er den Kopf und lächelte sie an. «Nein, das ist es nicht», sagte er. «Das verstehen Sie nicht. Ich glaube nicht, dass Sie das verstehen können.»
    «Dann versuchen Sie bitte, es uns zu erklären.»
    «Meine Eltern haben mich belogen. Sie haben gesagt, sie würden Verwandte besuchen. Sie haben mich verlassen. So habe ich das gesehen. Sie haben mich weggeschickt.»
    «Und Ihnen damit wahrscheinlich das Leben gerettet.»
    «Ja.»
    «Aber statt ihnen dankbar zu sein, haben Sie versucht, Ihre Eltern zu vergessen.»
    «Ja. So war es. Ich wollte weder etwas von den Juden, noch wollte ich etwas von den Nazis wissen. Ich wollte ein normales Leben führen. Ich war ein Kind, und ich wollte genauso
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