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Partitur des Todes

Partitur des Todes

Titel: Partitur des Todes
Autoren: Jan Seghers
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werden. Wenn man alt war, musste man an ihn denken, um seine Tage zu genießen und nicht griesgrämig zu werden. Dennoch bedauerte er manchmal, nicht an das ewige Leben zu glauben. Obwohl es hier im Quartier wahrscheinlich mehr Gotteshäuser, mehr Kirchen, Synagogen, Moscheen und Tempel als irgendwo sonst in der Stadt gab, gehörte er keiner Religionsgemeinschaft an und glaubte weder an die Wiederauferstehung des Leibes noch der Seele. Er glaubte, dass man nur wenige Spuren hinterließ und dass auch diese Spuren rasch verblassten. Monsieur Hofmann war fünfundsiebzig Jahre alt, erfreute sich guter Gesundheit und hoffte, noch lange zu leben. Dennoch gab es einen Wunsch, der größer war als dieser. Was auch geschehen würde, er wollte vor seiner Freundin Mademoiselle Blanche sterben.
    Er verließ sein Viertel nur noch selten, machte aber einmal im Jahr, immer um Ostern herum, eine Rundreise über die Friedhöfe der Stadt, um die Gräber jener Frauen und Männer zu besuchen, die ihm in den vergangenen Jahrzehnten nahegestanden hatten. Die meisten von ihnen waren Kellner und Tänzerinnen gewesen. Monsieur Hofmann hatte bis vor wenigen Jahren ein kleines Revuetheater am Fuße des Montmartre betrieben, und so war es nur natürlich, dass sich sein Bekanntenkreis aus Menschen zusammensetzte, die in derselben Branche arbeiteten wie er selbst.
    Mademoiselle Blanche war eines der ersten Mädchen gewesen, das damals bei ihm angefangen hatte. Sie kamen aus allen möglichen Gegenden des Landes nach Paris, manche auch aus Belgien, aus Deutschland oder aus den Kolonien, und träumten davon, ihr Glück in einer der bekannten Ballettkompanien von Paris zu machen. Schließlich mussten die meisten von ihnen einsehen, dass sie dazu nicht begabt genug waren, und so verdingten sie sich in einem der zahllosen Varietés, wo sieAbend fürAbend vor einem vorwiegend männlichen Publikum tanzten und sich auszogen. Madeleine war nicht mal zwei Wochen bei ihm gewesen, als sie bereits das erste Mal in sein Bett gekrochen war. Sie hatte leuchtende, dunkle Augen und eine Haut von der Farbe einer hellen Esskastanie. Vor allem aber war sie nicht so dünn wie die anderen Tänzerinnen gewesen, und genau das hatte ihm gefallen. «Ich schlafe mit dir, weil ich dich mag», hatte sie gesagt, «und wenn ich dich irgendwann einmal nicht mehr mag, wird damit Schluss sein. Du wirst andere Frauen haben, ich will es nicht wissen.Aber wenn du irgendwann gehen willst, möchte ich die Erste sein, die es erfährt.» Sie hatte recht gehabt. Er hatte mit anderen Frauen geschlafen und sie mit anderen Männern.Auseinandergegangen waren sie nie, auch wenn jeder, bis heute, seineeigene Wohnung behalten hatte. Irgendwann hatten sie wohl auch angefangen, einander zu lieben.Aber sie hatten den Zeitpunkt versäumt, es sich gegenseitig einzugestehen. Sie hatten sich vom ersten Tag an geduzt, dennoch hatte sie darauf bestanden, dass er sie, wie alleanderen es ebenfalls tun mussten, Mademoiselle Blanche nannte. So kam es, dass sie bald auch in seinen Gedanken nur noch diesen Namen trug. Sie hingegen nannte ihn Georges.
    Kurz bevor er die Kreuzung an der Metro-Station «Belleville» erreicht hatte, blieb Monsieur Hofmann unter dem Schatten einer Kastanie stehen. Seine Freundin saß bereits auf einem der Stühle vor dem Café La Veilleuse, wo sie sich seit vielen Jahren jeden Vormittag trafen. Vor ihr auf dem runden Tisch standen eine Tasse Espresso und ein Glas Wasser. Er wusste, dass Mademoiselle Blanche ihn längst gesehen hatte, aber, weil es zu ihrem täglichen Ritual gehörte, so tat, als habe sie ihn noch nicht bemerkt. Erst als er näher kam, schloss sie die Augen und wartete, dass er sie auf beide Wangen küsste. Dann sah sie ihn lächelnd an und sagte: «Das ist das Schönste, was ich habe, mein kleiner Georges, wenn ich dich nicht hätte…»
    Und auf diese Worte freute er sich, seit er am Morgen aufgewacht war.
    «Was ist mit deiner Hand?»
    «Nichts. Ein Missgeschick. Ich habe mich geschnitten.»
    «Wie fühlst du dich heute?», fragte sie.
    «Gut»,antwortete er. Und nach einem kurzen Zögern: «Offen gesagt bin ich ein wenig nervös.»
    «Wegen deiner Kleinen?»
    «Was meinst du?»
    «Was meinst du, was meinst du», äffte sie ihn nach. «Du weißt genau, was ich meine. Deine Journalistin meine ich.»
    Er wusste, dass Mademoiselle Blanche ihre Verärgerung nur spielte.Aber es gefiel ihm, dass sie tat, als sei sie eifersüchtig.
    «Wirst du reden?», fragte
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