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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten
Autoren: Péter Nádas
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anderer hoffnungsloser Fall war aufregender, mit dem war er seit mehr als zwei Monaten beschäftigt. Ein Vatermord, dessen sich anstelle der regelmäßig von ihrem Vater missbrauchten minderjährigen Tochter die Mutter anklagte.
    Nach dem Nachtdienst überkam ihn oft Verzagtheit, was ihm Angst machte, nicht zu Unrecht. Seine natürliche Trägheit bahnte sich auf diese Art einen Weg. Kienast ähnelte einer großen Katze, er liebte es weich, warm und bequem.
    Es würde lange dauern, bis man den Leichnam identifizieren konnte, schon weil niemand den Mann vermisste, auch nach den Festtagen nicht.
    Bevor sie ihn auf Eis legten, wurde er nur gerade einer oberflächlichen pathologischen Prüfung unterzogen. Die Kriminaltechniker untersuchten auch seine Kleidung gründlich. Nach wie vor fand man weder an ihr noch an seinem Körper Spuren, die auf eine Gewalttat hinwiesen. Ganz offensichtlich war der Mann auf der Parkbank einem Herzanfall erlegen.
    Auch wenn es Kienasts Aufmerksamkeit nicht entging, dass die Leiche kein einziges Kleidungsstück trug, auf dem sich ein Etikett befunden hätte. In Fällen, in denen die Feststellung der Identität Schwierigkeiten bereitet, wäre das von großem Nutzen. Nach Etiketts muss man geradezu automatisch ausschauen. Mäntel und Jacken wenden, da ist es ja aufs Futter aufgenäht. Bei Hemden und Pullovern am Kragen und am Ausschnitt suchen, bei Hosen innen am Bund. Auf Socken und Unterwäsche sind sie zuweilen aufgestickt, auf billigeren Waren meistens bloß aufgedruckt. Manchmal bringt das mehr als die sogenannte Bertillonage, die Bestimmung jener elf Körpermerkmale, die zur Identifikation dienen soll, aber meistens nichts nützt und in der Tiefe von Schubladen oder Datenbanken verschwindet. Dieser tote Mann hatte keine billigen Sachen getragen. Dr. Kienast nahm schon das dritte oder vierte Stück in Augenschein, mit übergestreiften Handschuhen zog er sie vorsichtig aus den beschrifteten Plastiktüten, und als er erneut feststellte, dass die Etiketts fehlten, zischte er vor Überraschung unwillkürlich durch die Zähne.
    Er war allein in dem Saal, das einsame Zischgeräusch hallte von den Kachelwänden wider.
    Denn es ist ja noch verständlich, wenn jemand die Etiketts als unangenehm bunt empfindet oder wenn sie seine Haut reizen, oder wenn es ihm ganz einfach nicht gefällt, so beschriftet zu sein, und er sie aus seinem Mantel, seinem Jackett entfernt. Und es ist auch noch akzeptabel, wenn er das Etikett von seinem Pullover oder seinem Hemd abtrennt, weil es, sagen wir, seinen Hals reibt, aber wozu in aller Welt würde er es vom Bund innen an der Hose entfernen, wo man es ja sowieso nicht sieht. Eine Manie, aber was für einen Sinn oder eine Bedeutung konnte eine solche Manie haben. Als wäre Kienast wütend auf die Person, deren Leiche hier vor ihm lag.
    Was für ein Neurotiker, der alle für die Identifikation geeigneten Zeichen von seiner Kleidung verschwinden lässt. Andere beachten die Etiketts gar nicht oder mögen sie im Gegenteil gerade, weil sie auf ihre Markensachen stolz sind. Sein Denken lieferte automatisch die Antwort. Verfolgungswahn, zwanghaftes Sichverstecken, berechtigte oder ungerechtfertigte Angst, Wunsch nach Spurenlosigkeit. Spurlos unter den Menschen verschwinden. Kienast betrachtete die Leiche, betrachtete die Sachen.
    Auf der verblüffend kleinen Unterhose aus einem durchsichtigen, glänzenden, fast glitzernden Stoff fand er einen ausgedehnten Spermafleck. Jedenfalls war das jemand, der Blau geliebt hatte, alle seine Sachen waren blau, hellblau, dunkelblau.
    Jemand, der sich nur gerade im Blau seines Hemds ein paar weiße Streifen gestattet hatte.
    Da war viel Blau, zu viel.
    Ein langweiliger Mensch.
    Wahrscheinlich jemand, der seine langweilige Erlesenheit nur zur Tarnung getragen hatte und in Wahrheit obsessiv und manisch gewesen war. Ein so anspruchsvoller Mensch, gepflegt, während in ihm die Leidenschaft tobt, musste unerträglich gewesen sein. An den genauso durchsichtig feinen dunkelblauen Socken ebenfalls kein Markenzeichen. Von der Naht der silbrig schimmernden, pflaumenblauen kleinen Unterhose war das Etikett hingegen so weggeschnitten, dass eine vom Waschen ausgefranste kleine Zunge geblieben war. Es war ein ganz spezielles Stück. Nur heftig fetischistische Herren tragen so etwas. Er blickte auf die Leiche, dann nahm er den beträchtlichen Spermafleck auf diesem besonderen Wäschestück näher in Augenschein. Die Folge einer ausdauernden Erektion,
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