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Papillon

Papillon

Titel: Papillon
Autoren: Henri Charrière
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kümmerliche Lichtstrahlen durch.
    Tief bestürzt über das herzzerreißende Geschrei, gehe ich wie ein gefangenes Tier im Kreis herum. Ich habe das Gefühl, von allen verlassen zu sein, und komme mir buchstäblich lebendig begraben vor. Ja, ich bin sehr allein. Ein Schrei, das ist alles, was mich erreicht.
    Da geht auf einmal die Tür auf. Ein alter Pfarrer kommt herein. Du bist jetzt absolut nicht allein – da, vor dir, steht ein leibhaftiger Pfarrer.
    »Guten Abend, mein Sohn. Entschuldige, daß ich nicht schon früher gekommen bin, aber ich war auf Urlaub.
    Wie geht’s?« Und der gute alte Priester tritt ohne Umstände ein und setzt sich artig auf meine Pritsche.
    »Woher bist du?«
    »Aus der Ardeche.«
    »Was ist mit den Eltern?«
    »Mama ist gestorben, ich war elf Jahre alt. Mein Vater hat mich sehr geliebt.«
    »Was ist er?«
    »Lehrer.«
    »Lebt er noch?«
    »Ja.«
    »Warum sagst du dann: Er
hat
mich geliebt, wenn er doch noch lebt?«
    »Ja,
er
lebt. Aber ich bin tot.«
    »Sag so was nicht. Was hast du denn getan?«
    Es kommt mir lächerlich vor, ihm zu sagen, daß ich unschuldig bin.
    »Die Polizei behauptet, ich hätte einen Menschen getötet«, antworte ich schnell. »Und wenn sie es sagt, muß es ja wohl stimmen.«
    »War es ein Geschäftsmann?«
    »Nein, ein Zuhälter.«
    »Und wegen einer solchen Halbweltaffäre hat man dich zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt? Das verstehe ich nicht. War es Mord?«
    »Nein, Totschlag.«
    »Das ist unglaublich, mein armes Kind. Was kann ich für dich tun? Willst du mit mir beten?«
    »Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer, ich habe nie Religionsunterricht erhalten, ich kann gar nicht beten.«
    »Das macht nichts, ich werde für dich beten. Gott liebt alle seine Kinder, ob sie getauft sind oder nicht. Du wirst jedes Wort wiederholen, was ich dir vorsage, willst du?«
    Seine Augen sind so sanft, sein rundes Gesicht strahlt so viel Güte aus, daß ich mich schäme abzulehnen, und als er sich niederkniet, knie auch ich mich hin. »Vater unser, der du bist in dem Himmel…« Die Tränen treten mir in die Augen, und der gute Pater nimmt, wie er das sieht, mit seinem rundlichen Finger eine dicke Träne von meiner Backe und tut sie sich auf die Lippen.
    »Deine Tränen, mein Sohn, sind für mich die schönste Belohnung, die Gott mir heute durch dich zukommen läßt. Ich danke dir.« Er steht auf und küßt mich auf die Stirn.
    Und wieder sitzen wir Seite an Seite auf der Pritsche.
    »Wie lange ist es her, seit du das letztemal geweint hast?«
    »Vierzehn Jahre.«
    »Wieso vierzehn Jahre?«
    »Seit dem Tod meiner Mutter.«
    Er nimmt meine Hand in die seine und sagt: »Verzeihe denen, die dir so viel Leid auferlegen.«
    Ich entziehe ihm die Hand und bin, ohne es recht zu wollen, mit einem Schritt mitten in der Zelle.
    »Nein, das kann ich nicht. Ich werde ihnen nie verzeihen! Soll ich Ihnen etwas anvertrauen, mein Vater? Ich denke Tag für Tag, Nacht für Nacht, Stunde um Stunde darüber nach, wie, wann und womit ich alle diese Leute töten könnte, die mich hierher gebracht haben.«
    »Du glaubst, was du sagst, mein Sohn. Du bist jung, sehr jung. Aber es wird eine Zeit kommen, da wirst du auf Strafe und Rache von selber verzichten.«
    Heute, vierunddreißig Jahre später, denke ich wie er.
    »Was kann ich für dich tun?« fragt er wieder.
    »Etwas Verbotenes, mein Vater.«
    »Was denn?«
    »In Zelle siebenunddreißig gehen und Dega sagen, er soll durch seinen Anwalt ein Gesuch machen, daß man ihn in die Zentrale von Caen schickt. Ich habe das heute auch gemacht. Es geht darum, so schnell wie möglich aus der Conciergerie in eine der Zentralen zu kommen, in denen die Konvois nach Guayana zusammengestellt werden. Wenn man nämlich nicht gleich mit dem ersten Schiff mitkommt, muß man hier zwei Jahre bleiben und auf das nächste warten. Und wenn Sie mit ihm gesprochen haben, Herr Pfarrer, kommen Sie bitte wieder zu mir zurück.«
    »Unter welchem Vorwand, mein Sohn?«
    »Zum Beispiel, daß Sie Ihr Gebetbuch bei mir vergessen haben. Ich warte auf Antwort.«
    »Und warum hast du es so eilig, in dieses grauenhafte Bagno zu kommen?«
    Ich sehe in dem Pfarrer einen echten Commis Voyageur des lieben Gottes und bin überzeugt, daß er mich nicht hintergehen wird.
    »Damit ich schneller ausbrechen kann, mein Vater.«
    »Gott wird dir beistehen, mein Kind, ich bin ganz sicher, und du wirst dein Leben neu beginnen, ich fühle es.
    Deine Augen sind die eines guten Jungen, du hast ein
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