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Papillon

Papillon

Titel: Papillon
Autoren: Henri Charrière
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Der fragliche Herr war von Beruf Steinbrucharbeiter. Eines schönen Tages beschloß er, in der kleinen nördlichen Stadt, in der er lebte, Selbstmord zu begehen und gleichzeitig seine Ehegattin zu beseitigen. Er benützte dazu eine starke Dynamitpatrone. Er lege sich neben seiner schlafenden Frau nieder und zündete sich eine Zigarette an, um die Dynamitpatrone, die er zwischen sich und der Frau in der linken Hand hielt, in Brand zu setzen. Die Explosion soll furchtbar gewesen sein. Man mußte die Frau mit dem Löffel zusammenscharren, sie war buchstäblich zerkrümelt. Das Haus stürzte teilweise ein, drei Kinder wurden unter den Trümmern begraben, ebenso eine siebzigjährige Frau. Die übrigen Bewohner wurden mehr oder weniger schwer verletzt. Er selbst, Tribouillard, hatte sein linkes Auge, sein linkes Ohr und einen Teil der linken Hand eingebüßt – nur noch der kleine Finger und die Hälfte des Daumens waren übriggeblieben. Oben auf dem Kopf hatte er eine tiefe Wunde, die eine Schädeloperation nötig machte.
    Seit seiner Verurteilung ist Tribouillard Profos der Strafzellen in der Zentrale. Und dieser Halbirre darf mit den Unglücklichen, die in seinem Bereich landen, nach Belieben verfahren.
    Eins, zwei, drei, vier, fünf, kehrt… Eins, zwei, drei, vier, fünf, kehrt… Das endlose Hin und Her zwischen Zellenwand und Zellentür beginnt wieder.
    Tagsüber darf man sich nicht hinlegen. Um fünf Uhr morgens weckt uns ein schriller Pfiff. Man muß aufstehen, sein Bett machen, sich waschen, herumgehen oder sich auf den angemauerten Klappstuhl setzen. Man darf sich nicht niederlegen. Eine raffinierte Draufgabe des Strafsystems. Das Bett wird an die Mauer geklappt und bleibt oben. Der Gefangene kann sich nicht ausstrecken und ist leichter zu überwachen.
    … Eins, zwei, drei, vier, fünf… Vierzehn Stunden Marsch. Um den Bewegungsmechanismus besser aufrechtzuerhalten, muß man den Kopf senken, die Hände auf dem Rücken verschränken, nicht zu rasch und nicht zu langsam gehen, möglichst gleiche Schritte machen und automatisch umkehren, einmal auf dem linken Fuß, einmal auf dem rechten.
    Eins, zwei, drei, vier, fünf… Die Zellen hier sind heller als die in der Conciergerie. Man hört draußen den Lärm im Zuchthaus und Geräusche, die vom Land hereindringen. Nachts hört man das Pfeifen oder die Lieder der Landarbeiter, die nach Hause zurückkehren und sich mit einem Schluck Apfelwein stärken.
    Ich habe ein Weihnachtsgeschenk bekommen: durch einen Spalt zwischen den Brettern, die das Fenster verschließen, sehe ich die Felder unter der weißen Schneedecke liegen und ein paar dicke schwarze, von einem großen Mond beleuchtete Bäume. Es sieht genauso aus wie auf Weihnachtskarten. Der Wind hat die Bäume geschüttelt und von ihrer Schneelast befreit, sie heben sich gut ab. Weihnachten für jedermann, sogar für einen Teil der Gefangenen. Die Verwaltung bemüht sich um die durchziehenden Sträflinge. Man ist berechtigt, sich zwei Rippen Schokolade zu kaufen. Ich sage Rippen, nicht Tafeln. Diese zwei Rippen Schokolade waren 1931 mein Weihnachtsessen.
    Eins, zwei, drei, vier, fünf… Unter dem Druck der Justiz werde ich zum Seiltänzer. Das Hin und Her in meiner Zelle ist meine ganze Welt. Nichts, absolut nichts darf man in der Zelle behalten. Der Gefangene darf sich vor allem nicht zerstreuen. Würde man mich dabei überraschen, wie ich durch den Spalt am Fenster gucke, zöge das eine schwere Strafe nach sich. Und handeln sie nicht völlig richtig, da ich für sie doch nichts anderes bin als ein lebendig Begrabener? Mit welchem Recht nehme ich mir heraus, den Anblick der Natur zu genießen?
    Ein Schmetterling fliegt vorbei. Er ist hellblau mit einem kleinen schwarzen Streifen, eine Biene summt nicht weit von ihm vor dem Fenster. Was suchen die Tiere an diesem Ort? Sind sie toll von der Wintersonne, oder ist ihnen kalt und sie wollen ins Gefängnis? Ein Schmetterling im Winter ist ein zum Leben Wiedererstandener. Wieso ist er nicht tot? Und warum hat diese Biene ihren Stock verlassen? Welcher Übermut, sich hierher zu wagen! Ein Glück, daß der Profos keine Flügel hat, sonst würde sie nicht mehr lange leben.
    Dieser Tribouillard ist ein abscheulicher Sadist, und ich ahne bereits, daß es zwischen mir und ihm zu etwas kommen wird. Leider habe ich mich nicht getäuscht. Einen Tag nach dem Besuch der beiden bezaubernden Insekten melde ich mich krank. Ich kann nicht mehr, ich ersticke vor Einsamkeit, ich muß
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