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Papierkuesse

Papierkuesse

Titel: Papierkuesse
Autoren: Pali Meller
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die Silbengleichheit oder Ähnlichkeit: Soviel von der Form! Bei der Verschmelzung der Form mit dem Inhalt kann nun dem »Dichterling« passieren, dass er in den ersten zwei Zeilen noch klar denkt, die zweiten zwei Zeilen aber bloß des Reimes willen hinsetzt:
     

     
    Soviel von der Form! Bei der Verschmelzung der Form mit dem Inhalt kann nun dem »Dichterling« passieren, dass er in den ersten zwei Zeilen noch klar denkt, die zweiten zwei Zeilen aber bloß des Reimes willen hinsetzt:
     
    z. B.
     

     
    Diese Schreckensform der Dichtung wirst Du sehr viel bei der Jugend finden.
    Dein Gedicht »Heimat« ist wunderschön und echt in den Gedanken, tief und dichterisch empfunden und leidet Schiffbruch an der Form, verliert Schwung und Klarheit.
    HEIMAT
     
    Wo immer die Tage mich führten hin
    Und wars auch zum Glück und zur Güte,
    Blieb die Heimat mir immer in meinem Sinn
    Welch Glück wenn der Heimkehrtag blühte
     
    Das war der König unter den Tagen
    Erhöht aus der Masse der Vielen
    Ich sah ihn erhoben über mir ragen
    Alle anderen konnt er besiegen!
     
    Und lebte man gar in Saus und Braus
    und hatte man’s gut wie Keiner,
    Da ruft etwas »Du musst nach Haus«
    Dort wartet man lange schon Deiner
     
    Von wo erklingt dies mahnend Rufen,
    das treibend weist zur Heimat hin?
    »Lös dich vom Ort, den andre schufen!«
    Dies scheint der Mahnung tiefrer Sinn.
     
    Die Heimat zieht mit magnetischer Kraft
    mehr als dein »Ich« sich kann wehren
    Und glaubst Du, Du hättest es doch geschafft,
    musst bald Du als Sieger sie ehren!!!
    Was habe ich hier gemacht??
    Ich habe
Deine
Gedanken genommen und versucht, sie rhythmisch-zwanglos in Form zu bringen und habe ihnen durch größere Klarheit ein Stück Wahrheit abgerungen. Ich will nicht sagen, dass »meine« Umdichtung
gut
ist! Aber der Vergleich zwischen meinem und Deinem Gedicht sagt Dir alles, was ich zu diesem Thema sagen will und in zehn Seiten nicht besser ausführen könnte. Dasselbe gilt für Dein Gedicht »Ali«. Du siehst, es ist nicht Kritik bei mir, sondern der Wille, Dir zu helfen.
    Aus Barras Brief höre ich von Deinem Zeugnis, über das Du allzu diskret schweigst. Schicke mir genauen Bericht. Mir geht es weiter recht gut, und ich hoffe auf den Frühling, der scheinbar auch noch stark mit der Form ringt. Seid alle drei herzlich umarmt und ihr beide innig geküsst von Eurem
    Papa

[5]
    Plötzensee (ohne Datum)
     
    Meine Lieben
    Zu allererst meine olle Barra! Was war doch Dein Tintenbrief schön! Ein Meisterwerk! Ich habe den Brief geöffnet und dachte erst, dass gar nicht Du ihn geschrieben hast, denn ich war überzeugt, dass der ganze Brief von Pila war. Auf den Gedanken, dass Du schon solche Tintenbriefe fertig bringst, kam ich gar nicht, und Du kannst Dir denken, wie stolz ich war. Dazu dann noch die Osterzeichnung – mit anderen Worten, ich hatte mein Geschenk. So und noch länger musst Du mir immer schreiben. Jetzt kommst Du, Pila! Es ist ein ziemlich seltener Fall, dass Vater und Sohn sich alles brieflich sagen müssen, aber wenn man bedenkt, dass im normalen Alltag es fast nie zu richtigen Aussprachen kommt, und man mehr neben- als miteinander lebt, vor lauter Betriebsamkeit nicht zum Handeln kommt, Gefühle und Stimmungen ein vermeintliches, allmähliches »sich und einander Kennen« vermittelt, aus dem man oft mit Schrecken beim ersten Windstoß einer Meinungsverschiedenheit aufwacht und erkennt, dass man einander eben »anders« vorgestellt hat, so glaube ich immer mehr, dass wir mit Gewinn statt mit Verlust aus diesem Briefwechsel herauskommen werden. In Deinem, mir sehr lieben Osterbrief schreibst Du über Stimmungen, die so zart sind, dass Du Angst hast, sie anzustoßen, weil die Furcht, dass diese Seifenblasen der Fantasie platzen könnten, zu groß ist. Du fragst, ob ich dies kenne und verstehe? Natürlich, meinLiebling, kenne ich das! Mehr noch, ich weiß auch, was man damit anfängt oder besser noch: ich weiß, wie man diese bunt schillernden Kolibris einfängt, behält und zu einer Art Wirklichkeit verhilft! Was tut der Dichter, dessen Freude, Angst oder Leid zu Rhythmen wird, was der Musiker, dessen Sehnsucht nach dem Unendlichen in Tönen seine Form erhält, was der Architekt, der im begrenzten Raum die ewige Musik des Allraums zum Sinnbild werden lässt – was tun also die Künstler unter Gottes Sonne anderes, als mit tiefer Demut ihre Seelen zu öffnen, in denen solche Stimmungen geboren wurden und denen sie mit zarter helfender
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