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Paperboy

Paperboy

Titel: Paperboy
Autoren: Pete Dexter
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YANKEES HERZLICH WILLKOMMEN !
    Fünfzig Meilen weiter war der letzte Halt auf meiner Tour: zehn Zeitungen, die ich mit der Titelseite nach unten auf einen behelfsmäßigen Holztisch gleich hinter den Kaugummiautomaten in den sonnengebleichten Kramladen legen sollte, der von einer ungewissen Anzahl von Mitgliedern der Familie Van Wetter geführt wurde, die es ihren Kunden ersparen wollten, schon am Eingang mit schlechten Nachrichten konfrontiert zu werden.
    Ich weiß nicht, in welchem blutsverwandtschaftlichen Verhältnis diese Van Wetters mit jenem Mann standen, der von Sheriff Call zu Tode getrampelt worden war. Im Telefonbuch von Moat County war die Liste ihrer Namen eine halbe Spalte lang, und ihre Kinder heirateten nur selten außerhalb der Familie. Schon gar nicht hätte ich alle Verästelungen aufzeigen können, selbst wenn den Van Wetters danach gewesen wäre – was nicht zutraf –, mit mir über ihren Stammbaum zu reden.
    Ich kann nur sagen, dass an manchen Vormittagen ein alter Mann im Laden stand, blind und so wütend, als wäre er erst über Nacht blind geworden. Er ging zu den Zeitungen, die ich gebracht hatte, und zählte sie, wobei er die gefalzten Zeitungsränder mit den Fingern in seine Handfläche blätterte, als wolle er sich kitzeln, während er das Gesicht mit finsterer Miene dem Fenster zukehrte, wie eine sieche Pflanze sich dem Licht zudreht. An manchen Vormittagen war seine Frau im Laden.
    Manchmal war da auch eine junge Schwangere mit der schönsten Haut, die ich je gesehen habe, und ihre Kinder rannten durch den Vorhang nach hinten, sobald ich den Laden betrat.
    Diese Frau blickte niemals auf, doch kaum waren die Kinder verschwunden, ließ sich ein Mann mit verbranntem Gesicht – an einem Auge warf die Haut Falten wie ein schlecht gebügeltes Hemd – vor dem Vorhang blicken, stellte einen Fuß in den Laden, ließ die Arme am Körper herabbaumeln und schaute mir zu, bis ich die Zeitungen aufgestapelt und mich verabschiedet hatte.
    Einmal hatte ich vergessen, das Wochengeld einzusammeln, ging zurück in den Laden und sah, dass er immer noch an derselben Stelle stand und die junge Frau begaffte, die in dem Fach unter der Theke Kartons mit Schokoriegeln sortierte.
    Damals hat sie mich einen Augenblick angesehen, und fast schien es, als hätte ich ihr außer dem, was in der Zeitung stand, noch mehr schlechte Nachrichten gebracht. Wahrscheinlich, dachte ich, kann sie sich immer auf schlechte Nachrichten gefasst machen, wenn die Tür aufgeht.
    Ich habe sie nie zu dem Mann mit dem verbrannten Gesicht reden hören, und ich habe auch nie gehört, dass er mit ihr geredet hätte. Ich nahm an, sie waren verheiratet.
    VOR ZEHN WAR ICH mit meiner Runde fertig, stellte den Lieferwagen ab, ging die sechs Straßen nach Hause und fiel mit einem Bier und einer Ausgabe der Zeitung, die ich den ganzen Morgen lang ausgetragen hatte, ins Bett. Am frühen Nachmittag ließen mich die Geschichten in der Zeitung in einen unruhigen, traumschweren Schlaf gleiten, und einige Stunden später wachte ich in eben jenem Zimmer auf, in dem ich alle Nächte meiner Kindheit geschlafen hatte, ohne zu wissen, wo ich war.
    Etwas Ähnliches passierte mir auch in Gainesville, und in jenen orientierungslosen Augenblicken zwischen Traum und Wachen glaubte ich manchmal, jemand zu sein, der an keinen dieser Orte gebunden war.
    Ich stand auf, ging ins öffentliche Bad und schwamm ein paar Bahnen. Oder fuhr, wenn ich mir den Lieferwagen meines Vaters borgen konnte – sein neuer Chrysler stand in der Auffahrt, weil er die Garage für seinen geliebten, zwölf Jahre alten Ford reservierte, mit dem er ausschließlich zum Fischen fuhr –, nach St. Augustine im Norden und schwamm eine Meile oder weiter hinaus in den Ozean, bis die Arme und Beine schwer wie Blei waren. Dann ließ ich mich vom Wasser tragen, machte kehrt und schwamm zurück.
    Obwohl ich mich verausgabte, wurde ich heil an den Strand zurückgespült, und auf diese Weise blieben mir jene Momente erspart, die ich gleich nach dem Aufwachen brauchte, um das Zimmer wiederzuerkennen, in dem ich meine persönlichsten Gedanken gefasst und den Lauf meines Schicksals bestimmt hatte. Die Wände meiner Kindheit.
    Man könnte sagen, ich hatte Angst vorm Schlafen.
    JEDEN ABEND UM VIERTEL NACH SECHS kam mein Vater aus der Redaktion nach Hause, stieß langsam die Tür seines alten schwarzen Chrysler auf und langte noch einmal in den Wagen nach seinen Zeitungen. Er war zweifellos ein
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