Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Paperboy

Paperboy

Titel: Paperboy
Autoren: Pete Dexter
Vom Netzwerk:
MEIN BRUDER WARD war einmal berühmt.
    Heute spricht kein Mensch davon, und offenbar will auch niemand mehr etwas davon wissen, vor allem mein Vater nicht, dem sonst gerade das am Herzen liegt, was er nicht mehr berühren oder sehen kann. Dinge, die von ihren Mängeln und Unklarheiten reingewaschen wurden im Laufe der vielen Jahre, die er sie schon in seiner Erinnerung aufbewahrt, um sie immer wieder aufs Neue hervorzuholen und zu polieren, bis die Geschichten und das, wovon sie handeln, so makellos und scharf sind wie die Schneide des Messers in seiner Tasche.
    In seinen Geschichten sind die Barsche alle größer, als man je einen gesehen hat, und immer fängt sich die Sonne in ihren Schuppen, wenn sie aus dem Wasser springen.
    Jedes Mal aber lässt er sie entkommen.
    Nur über meinen Bruder erzählt er keine Geschichten. Wenn dessen Name fällt, verändert er sich – eine kleine Veränderung, man muss ihn kennen, um sie zu bemerken. Ohne einen Muskel im Gesicht zu bewegen, stiehlt sich mein Vater davon und zieht sich, glaube ich, an jenen geschützten Ort zurück, an dem er seine Geschichten aufbewahrt.
    Möglicherweise haben wir alle solche Orte.
    Irgendwann fällt einem dann vielleicht auf, dass er schon eine Stunde kein Wort mehr gesagt hat.
    ZWISCHEN DEN STÄDTEN LATELY UND THORN in Nordflorida wurde im August des Jahres 1965 an einer Landstraße, die parallel zum eine Viertelmeile entfernten St. Johns River verläuft, ein Mann namens Thurmond Call ermordet, der in Ausübung seines Amtes eine selbst für die Verhältnisse von Moat County unangemessen hohe Anzahl von Schwarzen umgebracht hatte.
    Thurmond Call war der Sheriff von Moat County und hatte dieses Amt bereits vor meiner Geburt ausgeübt. Er wurde am Vorabend seines siebenundsechzigsten Geburtstags umgebracht. Erst im Frühjahr zuvor hatte er einen Mann auf offener Straße zu Tode getreten. Zwar hieß es damals – nicht nur in Lately, der Kreisstadt, sondern auch in der größeren Stadt Thorn, in der wir wohnten, sowie in den kleinen Siedlungen am vierzig Meilen langen Flusslauf zwischen den beiden Städten –, dass es an der Zeit sei, Sheriff Call vom Staatssäckel abzunabeln, doch soll damit keineswegs angedeutet werden, er wäre seinem Job nicht gewachsen gewesen.
    Man führte diese Schwäche des Sheriffs auf äußere Umstände zurück und fand sie daher entschuldbar, auch wenn sie nicht zu heilen war. Wie Tuberkulose. Hippies, Bundesrichter, Schwarze – er konnte sich einfach nicht merken, was er mit ihnen anstellen durfte und was nicht, und das wiederum sorgte für ein ziemliches Durcheinander in seinem Kopf, das, so der Kern des Gedankengangs in Moat County, ihn zu weit maßloseren Ansichten führte, als er sie anderweitig gehegt hätte. Was seinerseits nun für ein gewisses Unbehagen in der Bevölkerung sorgte.
    Womit gesagt werden soll, dass der Mann, dem er im Frühjahr Handschellen angelegt und den er zu Tode getrampelt hatte, ein Weißer gewesen war.
    MAN FAND THURMOND CALL früh am Morgen während eines Wolkenbruchs auf dem Highway, eine Viertelmeile von seinem Jeep entfernt. Der Motor lief nicht mehr, nur die Scheibenwischer bewegten sich noch ruckartig, und die Scheinwerfer leuchteten blass orange. Der Becher, den er sich während der Fahrt zwischen die Beine geklemmt hatte, um den Tabaksaft hineinspucken zu können, stand auf dem Dach. Man hatte Thurmond Call vom Magen bis zur Leiste aufgeschlitzt, für tot gehalten und liegen gelassen.
    Die Frage, wie er derart ausgeweidet bis zu jener Stelle auf dem Highway gelangen konnte, an der er gefunden worden war, hat mit dem Mord an sich vermutlich nichts zu tun, verweist aber beharrlich auf etwas Unerledigtes, weshalb sie in Moat County bis auf den heutigen Tag in das Reich jener profunden Fragen gehört, auf die es wohl nie eine Antwort geben wird. Und vielleicht rechnen andere Orte sie ebenfalls dazu, da der Sheriff gegen Ende seines Lebens im ganzen Staat auf die eine oder andere Weise zu einer Art Symbol geworden war.
    Anfänglich war ich der Meinung – und diese Angelegenheit zählte zu jenen, über die ich mir mit fünfzehn Jahren schon eine Meinung gebildet hatte –, Bären hätten ihn fortgeschleift. Anders als seine Freunde glaubte ich nicht daran, dass er dem Wagen seines Mörders hinterhergekrochen war, eine Ansicht, die auf der Beerdigung als Tatsache hingestellt wurde.
    Erst als ich älter war, kam mir der Gedanke, dass er vielleicht einfach nur davongekrochen war – ohne zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher