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Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine
Autoren: Brigitte Riebe
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nieder auf der toten Erde und griff nach dem Sichelmesser. Zum letzten Mal hob er seinen Blick, um Abschied zu nehmen, von dem, was einst der Palast der blauen Delphine war.
    Eine leichte Berührung in seinem Nacken ließ ihn aufschrekken. Und auf einmal, mit aller Gewalt, stürmte die Gewißheit auf ihn ein.
    Ich bin, der ich bin.
    Da waren die Worte wieder, die ihm damals Sicherheit und Gewißheit geschenkt hatten. Die ihn ausgezeichnet hatten vor allen anderen. Die ihm endlich Frieden geschenkt hatten.
    Ich bin, der ich bin.
    Sie waren mächtiger als die schwarze Todessehnsucht, die er in sich spürte. Er würde nicht sterben. Er durfte nicht Hand an sich legen. Die Worte waren eine Warnung vor Angst und Verzweiflung. Das waren Worte, die er gehört hatte, Bilder, die er kannte! Er hatte sie schon einmal gesehen, in der Nacht des Feuers, als Mirtho und Hatasu ihn gemeinsam in das höchste und heiligste der Elemente eingeweiht hatten. Als zum erstenmal seine Liebe zu Hatasu aufgelodert hatte. Damals hatte er sie nicht spüren wollen, sich gegen sie gewehrt, weil in seinem Herzen nur Platz für Ariadne sein sollte. Jetzt aber wußte er, daß er Hatasu liebte.
    »Erinnerst du dich endlich?« fragte die leise Stimme hinter ihm.
    »Das Feuer. Mirtho und du. Die Macht der Frauen. So stark, so unbedingt. Ja, ich erinnere mich«, brachte er leise hervor. »Niemals werde ich diese Stunden vergessen.«
    »Dann dreh dich um!«
    Er gehorchte.
    »Ich bin nicht allein«, sagte Hatasu. »Sieh mal, wen ich dir mitgebracht habe!«
    An ihrer Hand hielt sie ein kleines, dunkelhaariges Mädchen, in einem dreckigen Kleidchen, das irgendwann einmal weiß gewesen sein mußte. Er sah die Tränenspuren auf ihrem Gesicht. Sie aber versuchte ein zaghaftes Lächeln, mit dem sie ihn anblinzelte.
    »Dindyme«, sagte er überrascht. »Akakallis’ kleine Tochter!«
    »Der Sieg des Lebens über den Tod«, nickte Hatasu und streichelte den Kopf der Kleinen. »Und der Hoffnung über die Verzweiflung. Die Große Mutter ist nicht tot, Asterios! Hätte Sie uns sonst Ihre kleine Tochter geschickt? Dieses Kind ist das Pfand der Hoffnung, das die Große Mutter uns schenkt.«
    Beinahe streng schaute sie ihn an, die Priesterin der Isis, die ihre Heimat am Nil verloren hatte.
    »Sie hat uns nie verlassen. Schau hinunter in die Ebene, die unter der Aschedecke schläft! Jetzt ist alles grau, aber das Grün wird zurückkehren. Auf die Zerstörung wird neue Fruchtbarkeit folgen, auf den Tod neues Leben.«
    Ein leiser Wind hatte sich erhoben, aber er trug keine heiße Asche mehr mit sich. Beide blickten nach Norden.
    »Es werden andere kommen, die die Macht der Großen Mutter leugnen«, sagte er langsam. »Ich kann ihr Nahen fühlen. Starke, mächtige Krieger, Männer wie Theseus, die an sich reißen werden, was sie in den Ruinen finden. Sie werden die Situation zu nutzen wissen und sich nehmen, was sie schon so lange begehrt haben. Kreta wird nie mehr das sein, was es einmal war.«
    Jetzt lachte Hatasu leise. »Das wird es vielleicht nicht«, sagte sie. »Aber Ihre Macht bleibt. Sie ist stärker als alle Krieger«, sagte sie bestimmt. »Sie wird ewig weiterleben, in allen Frauen und allen Männern. In mir. Und in dir. Ich liebe dich, Asterios. Ich habe dich immer geliebt.«
    Beide schwiegen, dann begann das Kind zu weinen. »Ich habe Hunger«, sagte es, »und schrecklichen Durst. Ich will etwas trinken!«
    Asterios und Hatasu sahen sich an. Dann hob er seinen Wasserbeutel auf und setzte ihn behutsam an ihren Mund. Sie trank so gierig, daß sie schon nach wenigen Zugen ein Schluckauf zum Aufhören zwang.
    »Es wird lange dauern, bis wir wieder einigermaßen hier leben können«, sagte er und zog die Kleine auf seine Knie. »Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte.«
    »Ja«, sagte Hatasu. »Sehr, sehr lange. Aber wir werden leben. Und Sie wird uns nie verlassen. Sie ist immer bei uns. Die Göttin lebt weiter in allem, was atmet.«
    Der Wind war stärker geworden. Er riß die dunkle Wolkendecke an mehreren Stellen auf. Einer der seltsamen grün- und rotglühenden Sonnenuntergänge stand bevor, die sie noch viele Monate lang staunend erleben würden. Alle drei, Asterios, Hatasu und Dindyme starrten zum Himmel.
    Der Palast der blauen Delphine lag in Trümmern. Aber das Licht war als Verheißung zu den Menschen auf Kreta zurückgekehrt.

Epilog
I
    Kreta besitzt unter den Inseln des Mittelmeeres historisch und kulturgeschichtlich eine ganz besondere Bedeutung. Während
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