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Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine
Autoren: Brigitte Riebe
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herabfallenden Holzstücken und Mauerteilen auszuweichen.
    »Wir brauchen Wasser und viele Hände«, schrie Aiakos. »Ich hole Hilfe.«
    Eine Bodenwelle brachte ihn zum Stolpern, und nur im letzten Augenblick konnte er sich an der Wand festhalten. Ein schwerer Südweststurm hatte sich erhoben, der die Rauchfahnen aus den Fensterhöhlen waagrecht zur Seite trieb. Plötzlich kamen auch von der anderen Seite Flammen auf sie zu, der ganze Gang schien aus Feuer zu bestehen.
    »Wir müssen springen!« rief Aiakos. »Schnell! Sonst verbrennen wir!«
    Aber Minos hatte keine Kraft mehr. Die Augen weit aufgerissen, griff er sich an die Kehle und sank vor ihm zu Boden. Aiakos sah die Feuerwand auf sie zukommen. Da ging er auf die Knie und bedeckte den Leib des Königs mit seinem eigenen Körper.
     
    Wälder und Haine brannten seit Stunden. Es gab keine Chance, lebendig die große Höhle zu erreichen, in der die anderen auf sie warteten. Im letzten Augenblick, zwischen Blitzen und Donnerschlägen, zwischen Erdstößen und rasenden Wirbelwinden, die das Vorankommen unmöglich machten, retteten sich Asterios, Hatasu und die Mysten in eine kleine Höhle.
     
    Die Flutwelle rollte auf Kreta zu. Das Meer brandete und toste, und sein Rauschen klang unheilvoller als all die schrecklichen Laute, die die Menschen in den langen, angsterfüllten Stunden zuvor gehört hatten.
    Sehr schnell kam der Tod. Kaum, daß sie noch das Gebrüll der riesigen Woge vernahmen, so rasch hatte sie sich bis weit ins Hinterland ergossen. Tosende Wasser rissen alles mit sich. Dörfer und Wälder wurden überspült, die stärksten Bäume entwurzelt, Häuser, Vieh und Menschen wie Spielzeug durcheinandergewirbelt. Als das Wasser sich zurückzog, riß es viele der Schutzsuchenden auf den Hügeln mit sich und brach gleich darauf abermals weit ins Land hinein.
    Die salzigen Spuren der Flut erreichten den höhergelegenen Palast der blauen Delphine, der zum großen Teil schon in Flammen stand. Pasiphaë kümmerte sich nicht darum. Sie kniete tränenüberströmt neben dem Leichnam von Xenodike. Das Feuer hatte sie im Treppenhaus überrascht. Sie war gesprungen und lag jetzt mit gebrochenem Genick auf dem Alabasterboden.
    »Wo sind Akakallis und Ikstos?« weinte Pasiphaë. »Und Dindyme?«
    »Sieh, mein Täubchen«, sagte Mirtho. »Hab keine Angst, ich bin ja bei dir! Ich bin sicher, sie sind gleich wieder zurück! Laß uns nach draußen gehen, in den großen Hof!
    »Aber werden sie uns dann noch finden?« fragte die Königin so verzweifelt, daß Mirtho ihr nicht sagen konnte, was sie gerade in einem der Geheimgänge gesehen hatte: Akakallis und Ikstos, beide erschlagen. Sie mußten beinahe im gleichen Augenblick gestorben sein. Nur von dem Kind hatte sie keine Spur entdeckt.
    Widerstrebend ließ Pasiphaë sich ein Stück mitziehen. Dann versteifte sich ihr Körper, und sie blieb plötzlich stehen. »Du verschweigst mir etwas«, sagte sie. »Was ist es? Sag es mir sofort!«
    »Komm mit nach draußen!« lockte Mirtho verzweifelt. Hinter ihnen brannte alles. Beißender Qualm überall. Beide husteten.
    »Ich will es jetzt erfahren!« Pasiphaë lief zurück, bis vor die kleine Geheimtür. »Ich muß sehen, was sich dahinter verbirgt!«
    »Mach auf«, sagte Mirtho tonlos. »Wenn du dein Herz erneut durchbohren lassen willst!«
    Die andere sackte zusammen. »Wer?« fragte sie tonlos. »Wer von ihnen?«
    »Akakallis«, flüsterte Mirtho und sank merkwürdig schlaff nach vorn. »Und … Ikstos …«, ihre Stimme erstarb.
    Ein Balken hatte sie von hinten ins Rückgrat getroffen. Ein zweiter schlug hart auf ihren Kopf. Jetzt erst bemerkte Pasiphaë, wie nah das Feuer schon war.
    »Du hast recht, wir müssen nach draußen«, schrie sie. »Schnell, Mirtho, schnell, ich bitte dich!«
    Keine Antwort. Pasiphaë hob ihren Kopf in die Höhe. Mit weit geöffneten Augen starrte die Tote sie blicklos an. Der Widerschein der Flammen ließ ihre Haut glatt und rosig erscheinen. So hatte die Vertraute ihrer fernen Kindertage ausgesehen. Die Frau, die sie genährt hatte. Der sie ihr ganzes Wissen verdankte. Die sie der Großen Mutter nahegebracht hatte. »Nein! Nicht auch noch du! Nicht du!«
    Schreiend und weinend lud sie sich den überraschend schweren Körper halb über die Schulter und versuchte ein paar Schritte nach vorn. Sie stolperte und stöhnte, aber sie gab nicht auf. Es gelang ihr mit letzter Kraft, die Tür zu erreichen, die nach draußen führte. Einen Augenblick zögerte sie,
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